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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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irgendein lebenswichtiges Organ zu spenden, okay? Das hast du doch nicht vor, oder?«
    Ich lachte. »Ich erzähle dir alles, wenn wir zurück sind. Wenn ich zurück bin.«
    »Ich kann’s nicht erwarten.«
    Ich wurde zu einer fabelhaften Lügnerin. Ich war schon immer besonders gut beim Ausschmücken gewesen, bei harmlosen Schwindeleien, zum Beispiel bei Ausreden für nicht gemachte Hausaufgaben, aber ich hatte keinerlei Übung mit ernsthaften, folgenschweren Lügen. Ich nahm die Hände vom Lenkrad und begutachtete sie. Kein Tröpfchen Feuchtigkeit. Es schien, als wäre ich für ein Verbrecherleben geboren. Sollte ich meine Arbeit in der Bibliothek verlieren, könnte ich das ja anpeilen.
    Für die Akten: Hier folgt meine gesamte kriminelle Karriere bis zu diesem Zeitpunkt:
    Im Alter von 4 Jahren: Ich stehe mit meiner Mutter in einer Schlange in der Post, in der Hand halte ich einen Lutscher von der Drive-in-Bank. Der Junge hinter mir ist vielleicht drei Jahre alt, und ich merke, dass er meinen Lutscher anstarrt, bald wird er weinen. Ich drehe mich um, damit er den Lutscher besser sehen kann, und lecke demonstrativ mit meiner lila gefärbten Zunge. Er beginnt zu schreien, und seine Mutter kann nicht begreifen, warum. Ich bin die Einzige, die es weiß. Das ist die erste bewusst grausame Handlung, an die ich mich erinnern kann. Das könnte auch das Muster für all meine zukünftigen Beziehungen zu Männern sein, aber das tut hier nichts zur Sache.
    Im Alter von 5 Jahren: Mein Vater schickt mich in die Flure unseres Mietshauses, um verschiedene Dinge zu klauen, die der Pförtner vor den Türen unserer Nachbarn abgestellt hat. Kleidungsstücke von der chemischen Reinigung, Pakete von UPS , sogar Milch in Glasflaschen, die eine Familie im unteren Stockwerk von einer Farm in Wisconsin noch bis 1986 geliefert bekommen hat. Ich möchte betonen, dass wir nicht arm waren. Mein Vater hat später gesagt, er habe einfach nicht widerstehen können. Wenn in Russland jemand so blöd gewesen sei, Milch unbewacht vor der Tür stehen zu lassen, dann musste man sie nehmen und in der ganzen Stadt damit angeben, und alle Menschen in der Bar würden die Leute auslachen, die sich für so reich hielten, dass sie ihre Milch vor der Tür stehen lassen konnten. Damals sagte er jedenfalls zu mir, das seien Sachen, die unsere Nachbarn nicht mehr brauchten, deshalb würden sie sie in den Flur stellen, damit man sie nehmen könne. Er probierte die frisch gebügelten Oxfordhemden an und schickte mich mit denen, die nicht passten, zurück, damit ich sie in ihren Plastikhüllen wieder an den Türknauf hängte.
    Im Alter von 8 Jahren: Mein Vater steckt mir in einem Delikatessengeschäft neun kleine Kaviardosen in die Manteltaschen. Da weiß ich schon, dass es sich um Diebstahl handelt, aber ich bin zu sehr damit beschäftigt, so zu tun, als sei ich gute Fischmutter, als dass es mir etwas ausgemacht hätte. Ich bin ein Fisch und das sind die Millionen von Eiern, die ich mit mir stromaufwärts trage.
    Im Alter von 15 Jahren: Ich spicke bei der Abschlussprüfung in Algebra. Es ist überraschend einfach, und ich werde nicht erwischt. Ich warte auf Schuldgefühle, aber es kommen keine.
    Im Alter von 17 bis 20 Jahren: Beträchtliches, aber nicht ungewöhnliches Trinken unter dem erlaubten Alter usw. Nichts, was ein Präsidentschaftskandidat sich die Mühe machen würde zu leugnen.
    Im Alter von 23 bis 26 Jahren: Diebstahl in der Stadtbibliothek in Hannibal. Über hundert Bücher, die ich für minderwertig halte, einen Hefter, ein zehnjähriges Kind und einige Kartons mit Computerpapier.
    Nun überlegte ich, dass, abgesehen vom Trinken, alles andere mit Diebstahl verbunden war – die Mathematiklösungen, der Kaviar, die leicht gestärkten Hemden. Sogar der Zwischenfall mit dem Lutscher fühlte sich jetzt wie Diebstahl an, als hätte ich die Hände ausgestreckt und den Jungen mit den gierigen Augen an mich gerissen. Vielleicht sind wir alle irgendwie vorprogrammiert, was unsere Delikte betrifft. Lügner bleiben immer Lügner und Diebe bleiben immer Diebe, und Mörder werden schon gewalttätig geboren. Nur die Ausformung unserer Missetaten hängt von den Umständen ab. Wie tief wir in der Welt sinken, hängt davon ab, wie schlimm unsere Erziehung war. Davon, wer in unsere Bibliothek kommt und das ganze Universum gegen sich aufbringt.

17
    Debussys Hörner
    Nach dem Tanken und dem Einkauf von Schokolade, um uns wach zu halten, hatten wir kein Bargeld

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