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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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verschwunden, um sein Glück zu machen, und kehrte dreiundzwanzig Jahre lang nicht nach Hause zurück. Der nächste Hulkinow zog mit seinem Pferd in den Kampf und tötete vierzig Menschen an einem einzigen Tag. Er wurde der Liebling des Zaren.«
    Wenn mein Vater zur bolschewistischen Revolution gelangte, war ich in der Regel schon katatonisch, doch dann kamen die besten Teile – sein Vater und er selbst. Sein Vater, der auf den Fotos halbverhungert aussah, das lange Gesicht zwischen riesigen runden Ohren, hatte sich in Stalins Gunst geschlängelt, nur um Onkel Joe eins auszuwischen wegen einer unverzeihlichen Beleidigung, von der mein Vater zu meinem Ärger nie etwas Genaues erzählte. Über Jahre hinweg entwickelte ich verschiedene Theorien: Hatte er ein Fabergé-Ei der Romanows mitgehen lassen? Hatte er Stalin die Geliebte abspenstig gemacht? Doch dann begriff ich, dass mein Vater, der Märchenerzähler, das (wäre es etwas auch nur halb so Interessantes gewesen) längst in ein feinmaschiges Netz der Übertreibung eingewoben hätte. Vermutlich hatte es nur mit Steuergesetzen oder innerparteilichen Querelen zu tun gehabt. Auf jeden Fall verließ mein Großvater seine Frau und seinen achtjährigen Sohn, er nahm eine Schachtel Zigarren, eine Flasche Wodka und einmal Wäsche zum Wechseln und teilte ihnen mit, er gehe nach Sibirien, bevor Stalin die Chance bekomme, ihn dort hinzuschicken. Das war’s, und während meiner ganzen Kindheit stellte ich mir vor, er würde an die Tür unserer Chicagoer Wohnung klopfen, noch Schnee auf dem Mantel und den Bart voller Eiszapfen. Mein Vater beharrte zwar darauf, er sei einige Jahre später in Nowosibirsk gestorben, aber ich wusste es besser.
    Ilja, der älteste Bruder meines Vaters, starb, als er versuchte, über die Grenze nach Rumänien zu kommen, doch das war alles, was ich von ihm wusste. Es gab ein Foto von meinem Vater mit seinem Bruder, und mein Vater sagte jedes Mal, wenn wir das Foto betrachteten: »Das ist mein Bruder Ilja, der gestorben ist, als er über die Grenze nach Rumänien floh.« Punkt.
    In jenem Sommer, als mein Vater zwanzig Jahre alt wurde, eine Woche nachdem seine Untergrund-Schokoladenfabrik von seinem Nachbarn verraten worden war, schaute er eines Nachts aus dem Fenster des Hauses seiner Mutter und sah, wie zwei Männer in dünnen braunen Mänteln sich über sein Auto beugten. Ilja hatte es aus Schrottteilen selbst gebaut und mit meinem Vater geteilt. Als mein Vater eine Stunde später den Mut besaß, hinauszugehen und nachzuschauen, entdeckte er, dass sie eine dicke Kartoffel in das Auspuffrohr gestopft hatten. Wer diese Männer waren und warum sie versucht hatten, ihn mit Hilfe von Gemüse umzubringen, statt ihn am helllichten Tag wegzuschaffen, wie sie es mit den anderen machten, habe ich nie wirklich verstanden. Wie dem auch sei, mein Vater entfernte die Kartoffel mit einer Küchenzange, packte Anziehsachen in eine Tasche, küsste seine Mutter auf den von einer Zigarette schiefgezogenen Mund und fuhr an die Wolga, wo er vom Kai auf einen Frachtkahn sprang, sich zwei Minuten an einem Seil an der Außenwand festhielt und sich dann ins Wasser stürzte.
    Dabei brach er sich ein Bein. Beim Schwimmen verlor er seine Tasche, sein Bauch füllte sich mit Luft, und er lag flach wie ein Brett im Wasser und ließ sich stromabwärts abtreiben. »Ich spielte toter Mann, um am Leben zu bleiben«, sagte er immer mit genüsslicher Ironie. Zwei Stunden lang trieb er in dem kalten Augustwasser, bis zwei Brüder in einem kleinen Fischerboot ihn aus dem Wasser zogen, triefend und halb ertrunken, und ihn auf dem Boden trocknen ließen wie einen preisverdächtigen Fang. Bis er es schaffte, über Rumänien und Jugoslawien zum Flüchtlingscamp in Italien zu kommen, hatte er zwanzig Pfund abgenommen und sich einen Bart wachsen lassen.
    In der dritten Klasse, als wir Ellis Island durchnahmen, stellte ich mir immer vor, wie er auf einem Dampfer an Lady Liberty vorbeigefahren war, eine Decke über den Schultern, mit Kreide markiert, die Haare nach Läusen abgesucht, in Quarantäne schlafend. Ich hob sogar meine Hand und fing an zu erzählen, bis Mrs Hermans verdutzter Blick mich zum Schweigen brachte. Tatsache ist, dass mein Vater in armseligen Flüchtlingsklamotten ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten flog. Es war 1959, er trug gelbe Hosen und hatte einen Rasputinbart bis zur Brust und hervorquellende Augen. Später erzählte er, er habe das kalte Geländer gepackt und

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