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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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hatte. Natürlich hatte ich eine Million Möglichkeiten. Das heiße Wasser in der Dusche machte mir das klar. Vielleicht war es ganz einfach so: Hinter all den Rechtfertigungen und der Panik glaubte ich daran, dass wir im Recht waren. Ich hatte das Gefühl, dies war das Home of the Brave . Und wir waren die Mutigen.)
    Als ich gründlich darüber nachdachte, war ich sehr erleichtert, fast körperlich erleichtert darüber, dass Ian seinen Eltern eine Nachricht hinterlassen hatte. Sie würden die Polizei alarmiert haben, das war klar, und all die guten Hannibaler würden wohl mit ihren Taschenlampen auf die Suche gegangen sein, aber es gab doch einen grundlegenden Unterschied zwischen einem Kind, das ausgerissen ist, und einem Kind, das über Nacht eben mal verschwunden ist.
    Die Suche würde sich wohl auf die unmittelbare Umgebung beschränken. Sie würden im Schuppen hinter seiner Schule nachschauen, im Wald, bei Starbucks – und bestimmt auch überall in der Bibliothek –, aber zehnjährige Ausreißer passierten meist nicht die Grenze zu einem benachbarten Staat. Sie fuhren nicht Auto. Sie besaßen kein Geld. Es würde einige Tage dauern, bis sie anfingen, nach einem erwachsenen Komplizen zu suchen. Janet Drake kannte noch nicht einmal meinen Namen. Im Idealfall würde der Verdacht auf Pastor Bob fallen. Sie würden ihm die Hölle heißmachen, seinen Keller durchsuchen. Hätte man mich vor einer Woche gefragt, wer mit Ian aus Hannibal fliehen würde, ich hätte auf Pastor Sicko Bobbo gewettet.
    Um sieben Uhr saß ich im Schneidersitz auf meinem Bett und rief in der Bibliothek an. Nach dem kurzen Stopp zum Tanken hatte Ian nicht mehr verlangt, dass ich ihm das Handy gab – entweder vertraute er mir jetzt oder er wusste, dass ich zu tief im Schlamassel saß, um diese Sache mit einem einzigen Anruf wieder in Ordnung bringen zu können. Ich erreichte Loraines Voicemail und hoffte, dass sie sich noch daran erinnerte, wie man Nachrichten abhört. Sie bat Rocky mindestens einmal in der Woche, ihr zu helfen, »Nachrichten aus diesem Ding rauszuholen«. »Loraine«, sagte ich. »Hier ist Lucy, ich wollte mich mal melden, schade, dass wir nicht mehr miteinander gesprochen haben, bevor ich abfuhr. Ich danke dir sehr , dass du dich um alles kümmerst. Ich gehe davon aus, dass Sarah-Ann in dieser Woche meine Stunden übernimmt, und natürlich weiß sie genau, was zu tun ist, aber du kannst sie daran erinnern, dass am Freitag um 16:30 Uhr die Vorlesestunde ist, und wir nehmen gerade Die Borger durch, das Buch liegt auf meinem Schreibtisch. Wenn du es nicht findest, dann steht es bei Mary Norton, unter NOR . Und die Handarbeitsfrau kommt am Mittwoch. Ich glaube, das war’s schon. Also … wie ich dir neulich schon gesagt habe, als wir darüber sprachen: Ich bin am Montagmorgen zurück. Ich habe das Handy dabei. Und danke für alles! Bye!«
    Wenn Loraine sich treu blieb, würde sie in zwei Stunden Sarah-Ann anschreien, weil sie meinen Urlaub, der ja wohl eindeutig schon seit Wochen geplant gewesen sei, vergessen hatte. »Sogar Rocky wusste davon«, würde sie sagen, »und der untersteht ihr noch nicht einmal!«
    Als ich auflegte, sah ich, dass ich keine neuen Nachrichten bekommen hatte, dafür aber vier Anrufe, alle von gestern früh, aus der Bibliothek, alle, bevor ich Rocky auf dem Handy angerufen hatte. Sie waren natürlich besorgt, besonders nachdem sie das Licht gesehen hatten, das ich überall angemacht hatte. Aber sie waren nicht so besorgt, dass sie panische Nachrichten hinterlassen hatten, und das war ein gutes Zeichen. Ich stellte mir vor, dass auf meinem Anrufbeantworter zu Hause auch einige Meldungen auf mich warteten: »Lucy, wir fragen uns, wo du steckst«, und Ähnliches.
    Ian klopfte an meine Tür (schnell und laut, mehrmals hintereinander), und ich machte auf. Er stand da, vollkommen angezogen, die Haare gekämmt, und hielt mir seine Zahnpastatube entgegen. Seine Augen waren rot, aber er lachte und hüpfte herum.
    »Ich dachte, du könntest ein bisschen frischen Atem brauchen«, sagte er.

15
    Die Hymne
    An diesem Tag ließ ich ihn auf dem Beifahrersitz sitzen. Er war vermutlich groß genug, und ich fühlte mich sicherer beim Fahren, wenn nicht irgendjemand mir von hinten etwas zuschrie.
    Ich hatte ihm eine Packung mit sechs kleinen, gezuckerten Donuts aus dem Automaten im Hotel gezogen, jetzt trug er sie wie Ringe an den Fingern und biss sie vorsichtig vom äußeren Rand ab. Er trug eine Schirmmütze, aber

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