Ausgelöscht
Kahal Ahmad, der die Nachtschicht arbeitete, sagte, er habe Billy nicht gesehen.
Viel mehr konnte Clevenger nicht tun. Er ging zurück zum Loft und schenkte sich noch einen Becher Kaffee ein. Dann setzte er sich auf die Couch, trank langsam den Kaffee und sah dabei auf das Stahlskelett der Tobin Bridge, die sich vor dem blauschwarzen Himmel gen Boston spannte, und die vereinzelten Scheinwerfer, die zwischen den Stahlträgern hindurchschienen. Er legte den Kopf auf die Rücklehne und beschloss, ein paar Minuten zu dösen.
Er wachte auf, als die Haustür aufging. Er sah auf die Uhr. 2 Uhr 5 am Morgen. Er stand auf.
Billy kam ins Zimmer und sah bedrückt aus.
»Was ist los?«, fragte Clevenger.
Billy blickte geistesabwesend in die Ferne, wie immer, wenn er mit seinem Gewissen rang und der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen wollte.
»Der Streifenwagen steht nicht aus Spaß vor dem Haus«, sagte Clevenger. »Wenn du irgendwohin musst, dann lass dich von denen hinfahren. Zumindest, bis der Fall abgeschlossen ist.«
Billy nickte. »Ich wollte nicht, dass mir irgendjemand folgt.«
»Wohin? Wo bist du gewesen?«
»Bei Casey.«
Casey Simms, seine siebzehnjährige Exfreundin aus Newburyport. Clevenger spürte, wie sich alle Anspannung in seinen Muskeln löste. Vielleicht war Billy wieder mit ihr zusammen. Oder vielleicht hatten sie entschieden, die Trennung endgültig zu machen. Wie auch immer, es klang wie ein typisches Jugendlichen-Drama. »Willst du darüber reden?«, fragte er.
»Es ist alles total beschissen«, sagte Billy.
»Was? Was ist passiert?«
»Alles.«
»Du denkst, diesmal ist es endgültig zu Ende?«
Billy zuckte mit den Achseln und ließ den Kopf hängen.
Irgendetwas lastete schwer auf ihm. »Was ist denn? Hat sie dir wehgetan? Wolltest du dich nicht von ihr trennen? Glaub mir, das kenne ich alles. Du kannst es mir ruhig erzählen.«
»Das hier kennst du nicht. So was ist dir nicht passiert. Zumindest glaube ich das nicht.« Er wandte den Blick ab.
In Clevengers Kopf gingen Warnlichter an. Das klang nicht nach einer simplen Trennung. »Was ist los?«, fragte Clevenger. »Was immer passiert ist, Billy, du bist nicht allein. Und das wirst du auch nie sein, solange ich da bin.«
Billy atmete tief durch und starrte abermals in die Ferne. »Sie sagt, sie ist schwanger«, erklärte er. »Sie hat einen Test gemacht.«
Clevenger versuchte, sein Entsetzen und seine Enttäuschung zu verbergen, die wahrscheinlich kaum einen Bruchteil dessen widerspiegelten, was Billy empfand, seine Panik angesichts einer Lebengeschichte, die unvermittelt in eine unerwartete Richtung gelenkt und aus den geregelten Bahnen gerissen wurde, von denen er gedacht hatte, dass sie ihn in eine gewissere Zukunft führen würden. »Wissen ihre Eltern schon Bescheid?«
Billy schüttelte den Kopf.
»Und was denkst du darüber?«, fragte er.
»Ich will, dass sie es wegmacht«, erwiderte er wütend. »Aber sie will nicht.«
Clevenger nickte. »Im wievielten Monat ist sie?«
»Noch um den ersten herum.«
»In Ordnung.«
»In Ordnung, was?«, brachte Billy mit zugeschnürter Kehle heraus.
»Einfach nur ›in Ordnung‹, nichts weiter. Komm her.«
Billy kam zu ihm, blieb einen Schritt vor ihm stehen.
Clevenger legte die Hand auf Billys breite Schulter, und seine Finger berührten den muskulösen Nacken seines Sohnes. »Wir schaffen das schon. Das habe ich mit ›in Ordnung‹ gemeint. Was immer auch passiert, gemeinsam finden wir einen Weg. Gemeinsam stehen wir es durch.« Er zog Billy an sich, drückte ihn kurz, dann ließ er ihn los, da er bemerkte, dass Billy die Umarmung stocksteif über sich ergehen ließ.
»Ich brauch ’ne Mütze voll Schlaf«, verkündete Billy und wich dabei Clevengers Blick aus. Er ging in sein Zimmer und schloss die Tür.
Gegen 3 Uhr schaltete Billy das Licht aus.
Clevenger lag wach im Bett. Vor seinem geistigen Auge sah er Billys Gesicht, wie er ihm sagte, dass Casey schwanger sei. Er sah verängstigt aus. Panisch. Und Clevenger wollte sicherstellen, dass Billy begriff, dass sein Leben nicht zu Ende war, selbst wenn plötzlich Ereignisse über ihn hereinbrachen, über die er keine Kontrolle zu haben glaubte, selbst wenn eins dieser Ereignisse die Geburt eines Sohnes oder einer Tochter in seinem achtzehnten Lebensjahr war.
Clevenger hatte schon lange, bevor er überhaupt von John Snow oder Grace Baxter gehört hatte, gewusst, dass Menschen dann am stärksten gefährdet sind, in Depression zu
Weitere Kostenlose Bücher