Ausgelöscht
nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle. Sie sind nicht sein Psychiater. Und ich ebenso wenig.«
»Sie sorgen sich um ihn«, sagte Clevenger. »Genauso, wie Sie sich um John Snow gesorgt haben.«
Das half Sascha, mehr zu sagen. »Er ist nicht er selbst. Er redet ständig von Johns Tod, geht alles immer wieder durch. Ob ich irgendetwas in der Zeitung gelesen oder im Fernsehen gesehen hätte. Er ist wie besessen.«
»Und was denken Sie, warum?«
»Ganz ehrlich? Ich glaube, er hat etwas von sich selbst in John Snow gesehen.«
»Zum Beispiel …?«
»Die Vorstellung, seine Vergangenheit zu überwinden, die Leute zu vergessen, die einem wehgetan haben – und die Menschen, denen man selbst wehgetan hat. Ich denke, er wollte John von seinen Anfällen heilen, aber es war ihm noch wichtiger, ihn von seinen Erinnerungen zu befreien.«
»Warum sollte ihm das so wichtig gewesen sein?«
»Ich denke, wegen dem, was Jet passiert ist, als er noch klein war.«
Clevenger erinnerte sich an Hellers Geschichte – ausgesetzt von den leiblichen Eltern, Schulschwänzer, Jugendgefängnis wegen Körperverletzung. »Er hat es mir erzählt«, sagte er. »Als er die Neurochirurgie fand, war das für ihn die große Wende.«
»Es hätte auch alles andere sein können, solange es ihm Gelegenheit gab, Leben zu retten. Ich meine, er hat nicht mit Absicht auf den Jungen geschossen. Er war ja erst elf. Ein verkorkster Junge. Aber ich habe das Gefühl, tief in seinem Herzen glaubt er das nicht. Ich denke nicht, dass er sich je selbst vergeben hat …«
Heller hatte Clevenger nicht erzählt, dass er die Jugendstrafe bekommen hatte, weil er auf jemanden geschossen hatte. Er hatte es so klingen lassen, als ob er jemand zusammengeschlagen hätte. »Hat der Junge überlebt?«, fragte Clevenger. »Das hat er nicht erwähnt.«
»Nein«, sagte Monroe. »Das ist es ja. Er ist gestorben.«
Diese Enthüllung verschlug Clevenger die Sprache. Heller hatte jemanden getötet. Das bewies natürlich nicht, dass er abermals getötet hatte, aber es ließ es zumindest möglich scheinen. Mörder sind anders als andere Menschen – nicht durch Mitgefühl gehemmt. Vielleicht hatte Heller sich gewandelt, vielleicht auch nicht.
»Es schien fast so, als wünschte Jet sich, er selbst könnte sich der Operation unterziehen, die er an John vornehmen wollte«, fuhr Sascha fort. »Deshalb war es ihm so wichtig. Selbst wenn er tausend Leben retten würde, ich glaube nicht, dass er je vergessen würde, dass er einmal jemandem sein Leben genommen hat. Und ich glaube, er möchte endlich ohne Schuld leben, einen Neubeginn machen.«
»Sie können jederzeit Sozius in meiner Praxis werden«, sagte Clevenger und hoffte, damit die Unterhaltung zu beenden, ohne zu zeigen, wie erschüttert er war.
»Danke. Aber ich bekomme kaum mein eigenes Leben auf die Reihe, ganz zu schweigen davon, das Leben anderer zu regeln.«
Das war eine Einladung, tiefer in Monroes Lebensgeschichte vorzudringen. »Darüber sollten wir unbedingt bei Gelegenheit reden.«
»Bei Gelegenheit«, sagte sie. »Sollen wir Sie also um elf erwarten?«
»Das wäre wirklich nett.«
»Ich schreibe Sie in den Terminkalender. Bis nachher dann.«
»Bis dann.«
Clevenger legte auf. Er ging zu der Fensterwand und sah hinaus auf die Brücke. Saschas Einschätzung von Heller könnte zutreffend sein. Sein Wunsch, von seinem eigenen Gewissen befreit zu sein, könnte sein außergewöhnliches Verlangen, Snow zu befreien, geschürt haben, genau wie die Entrüstung, als jemand seinen Plan zunichte machte.
Aber man konnte Heller noch auf andere Weise sehen. Vielleicht hatte die Erregung, die Operation des Jahrzehnts auszuführen, einen Dämpfer erhalten, als ihm die moralischen Implikationen klarer wurden. Schließlich war sein gesamtes Lebenswerk angespornt von dem Bestreben, für das Leben, das er genommen hatte, Buße zu tun. Einen Mann mit einem sauberen Schnitt von seinen vergangenen Taten loszulösen mochte ihm letztlich so vorgekommen sein, als würde er einem Flüchtigen helfen, sich dem Gesetz zu entziehen.
Heller hatte Clevenger bei ihrer Stippvisite im Alpine erklärt, dass er die Operation selbst dann durchgeführt hätte, wenn Snows Anfälle nicht von tatsächlicher Epilepsie herrührten, sondern Pseudoanfälle wären. Aber was, wenn das nicht stimmte? Was, wenn Heller erkannt hätte, dass Snows »Anfälle« nicht mit dem Skalpell zu heilen waren, dass es bloß darum ging, Snows Gedächtnis auszulöschen?
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