Ausgelöscht
Stadtansichten von Boston, einschließlich des Public Garden und der Commonwealth Avenue, doch der Künstler hatte sie in mehr als bloße Abbilder der Realität verwandelt, hatte alle Härten von Linie und Form aufgelöst, um eine ideale Stadt zu erschaffen, in der Menschen und Gebäude und Straßen und Himmel in leuchtenden Farben verschmolzen und in eine Welt entführt wurden, die bedeutend märchenhafter war als die Summe ihrer Einzelteile.
Sein Blick wanderte zur gegenüberliegenden Wand, zu dem Aktporträt einer Frau, die in der Abenddämmerung hinter einer Spitzengardine stand und aus dem Erkerfenster ihres aus Backstein errichteten Patrizierhauses auf die von Straßenlaternen beleuchtete Beacon Street hinabblickte.
Snow ging langsam auf das Porträt zu, blieb drei Meter vor dem Gemälde stehen. Er erkannte auf den ersten Blick, dass es die Frau war, die er im Schaufenster gesehen hatte. In seiner Fantasie versetzte er sich in das Gemälde hinein, stellte sich hinter sie, die Hände auf ihre Schultern gelegt, und küsste ihren Nacken.
»Der Maler heißt Ron Kullaway«, sagte sie und trat neben ihn. »Er lebt in Maine.«
Ihre Stimme verband Stärke und Intelligenz mit einem Hauch von Verletzlichkeit. »Einzigartig«, sagte er, ohne sie anzusehen.
»Er ist auf dem Weg, einer der ganz Großen der amerikanischen Malerei zu werden. Haben Sie schon andere Werke von ihm gesehen?«
»Leider nein.«
»Ich finde, er hat die Gabe, das Leben lohnend erscheinen zu lassen«, sagte sie. »Lebenswert.«
Er spürte, wie ihr Handrücken ganz sacht seine Finger streifte. Oder war es nur Einbildung? »Wie gelingt ihm das?«, fragte er.
»Ich glaube, der Schlüssel liegt in den Dingen, die er weglässt, nicht so sehr in den Dingen, die er malt.«
»Die Struktur«, sinnierte Snow laut. »Die Grenzen.«
»Das, was uns einengt. Entweder er sieht es nicht, oder er ignoriert es absichtlich.«
Jetzt endlich erlaubte Snow sich, sie anzusehen, was seine Bewunderung nur noch steigerte. »Haben Sie ihn nie danach gefragt? Er muss lange gebraucht haben, Sie auf seine Leinwand zu bannen.« Sein Blick kehrte zu dem Gemälde zurück.
Sie lächelte.
»Wie viel kostet es?«
»Zweihunderttausend.«
»Für einen flüchtigen Blick auf ein lebenswertes Leben.«
»Manchen Menschen wird nicht einmal der zuteil.« Sie überlegte kurz. »Wenn Sie sich davon nicht fesseln lassen, dann ist es nichts für Sie.«
Er trat einen Schritt von dem Gemälde zurück und wandte sich zu ihr um. »John Snow«, sagte er und streckte ihr die Hand hin.
»Grace Baxter«, sagte sie und ergriff seine Hand.
Er bemerkte, dass sie einen Ehering und einen Solitärdiamanten von an die fünf Karat trug. An ihrem Handgelenk sah er drei mit Brillanten besetzte Armbänder. All diese Juwelen gaben zu verstehen, dass sie zu jemandem gehörte, aber davon abgesehen vermittelte nichts den Eindruck, dass sie gebunden wäre – weder ihr Tonfall noch der Blick ihrer Augen oder die Berührung ihrer Hand. »Würden Sie heute Abend mit mir essen gehen?«, fragte er und gab ihre Hand frei. »Ich verspreche, eine Entscheidung bezüglich des Gemäldes zu fällen, bevor wir das Restaurant verlassen.«
Sie verabredeten, sich im Anschluss an seinen letzten Vortrag im Aujourd’hui, dem französischen Restaurant des Four Seasons, zu treffen. Aber sie kam schon früher. Er sah, dass sie hinten im Saal stand und seinen Ausführungen zur »Reduktion der Rotationsenergie während des Fluges« zuhörte. Er bemerkte, dass etliche Männer im Saal, einschließlich seines Geschäftspartners Collin Coroway, ihr verstohlene Blicke zuwarfen. Er wünschte, er würde über etwas weniger Prosaisches reden, würde etwas Tiefschürfendes über das Universum oder Kreativität oder Liebe sagen. Doch er blieb auf die Naturgesetze beschränkt.
Trotzdem sah es in keinem Moment so aus, als würde sie sich langweilen.
»Wie nennen Sie den Beruf, in dem Sie tätig sind?«, fragte sie ihn hinterher, als er ihr ein Glas Wein einschenkte.
»Ich bin Luftfahrtingenieur. Ein Erfinder.«
»Und was für Dinge genau erfinden Sie?«
»Radarsysteme. Raketenleitsysteme.«
Sie schmunzelte.
»Was amüsiert Sie daran so?«
»Das kann ich nicht sagen. Ich kenne Sie ja kaum.«
Dort mit ihr zu sitzen, ihrer Stimme zu lauschen, ihr Parfüm zu riechen, weckte in ihm den Drang, ihr die unverblümte Wahrheit zu sagen. »So kommt es mir aber gar nicht vor«, sagte er.
»Ja, mir auch nicht.«
Er fühlte, wie etwas in
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