Ausgelöscht
Statur eines bedeutend jüngeren Mannes. Seine Stirn war hoch, sein Kinn markant, mit einer kleinen Kerbe. Er sah gut aus, und er wusste es, aber er wusste es objektiv, in der gleichen Weise, wie er wusste, welche Eigenschaften Kohlenstoff besitzt oder wie sich die Erdanziehung auswirkt. Er hatte nie gewusst, wie und wofür er sich sein gutes Aussehen zunutze machen sollte.
Jetzt, zum ersten Mal, wollte er attraktiv sein – für Grace. Er trug ein neues Hemd und ein neues Sakko, obgleich es für ihn auch seine alten Kleidungsstücke getan hätten. Er hatte sein widerspenstiges Haar stutzen lassen. Er hatte seinen Zweitagebart abrasiert, auch wenn er gewöhnlich bedeutend länger wartete, bis die Stoppeln kratzten und ihn bei der Arbeit störten.
Er schenkte sich ein Glas Wasser ein, holte zwei Dilantin-Tabletten aus der Tasche und schluckte sie. In all den Stunden, die er mit Grace am Telefon verbracht hatte, hatte er nur ein einziges Mal beiläufig erwähnt, dass er in der Kindheit unter Anfällen gelitten hatte. Er verschwieg die Tatsache, dass sie nie wirklich aufgehört hatten. Er wollte nicht, dass sie dachte, er sei ein körperlich gebrochener Mann.
Er ging durch das Schlafzimmer zu einem Panoramafenster, das Ausblick über den Public Garden bot. Es war ein sonniger, eiskalter Tag. Alles sah frisch aus. Er konnte die Eislaufbahn sehen, proppenvoll mit Familien. Und er dachte bei sich, wie schön es wäre, wenn er eines Tages dort mit Grace Schlittschuh laufen könnte.
Er warf einen Blick auf die Uhr. Fast 16 Uhr. Sie musste jeden Moment kommen. Er war erregt und besorgt zugleich. Denn er fragte sich noch immer, ob Grace wirklich existierte oder jemand war, den er sich bloß zusammengeträumt hatte. Er hatte sich erlaubt, ihr mehr von seinen Gedanken und Gefühlen mitzuteilen als jedem anderen Menschen. Lag es daran, dass sie seine Seelenverwandte war, oder wünschte er sich nur, zu der Art von Männern zu gehören, die imstande ist, einen Seelenverwandten zu besitzen? Hatte er schlicht einen Grund heraufbeschworen, seine zerrüttete Ehe endgültig als gescheitert erklären zu können? War er fähig, ganz Mensch zu sein, oder machte er sich da etwas vor?
Es klopfte an der Tür. Er erstarrte, von der Angst gepackt, seine Frau könnte ihm gefolgt sein oder schlimmer noch, seine Tochter oder sein Sohn. Doch die Angst war irrational; sie konnten unmöglich wissen, wo er war. Blazek hätte ihn niemals verraten. In diesem Moment, innerhalb dieser vier Wände, war er frei. Bei dem Gedanken atmete er tief durch und ging zur Tür.
Als Beweis seines Vertrauens spähte er nicht durch den Spion, bevor er die Hand ausstreckte und die Tür öffnete.
Grace Baxter stand vor ihm, in ihrem schlichten schwarzen Kleid, ganz wie er sie gebeten hatte – dem Kleid, das sie bei ihrer ersten Begegnung getragen hatte.
Sein Herz begann zu rasen. Ein neues Gefühl. Ein Gefühl, das ihm gefiel.
Sie streckte ihm die Hand hin. Er ergriff ihre beiden Hände und führte sie rückwärts gehend ins Wohnzimmer. »Ich schätze, wir werden uns hiermit bescheiden müssen«, scherzte sie, während ihr Blick durch den weitläufigen, fast einhundert Quadratmeter großen Raum mit asiatischen Wandbehängen, getäfelten Wänden, Kuppeldecken, verzierten Deckenleisten und Kristalllüstern wanderte. Sie warf einen Blick durch die zweiflügelige Tür ins Schlafzimmer, sah das große Doppelbett mit den gestärkten weißen Kissen und Decken und der warmen Steppdecke. Sie ließ ganz sacht seine Hand los und trat an das Fenster, das Ausblick über den Park bot. Dann stieg sie graziös aus ihren Schuhen und lehnte sich an den Fensterrahmen, ganz dicht hinter den hauchzarten Gardinen.
Es kam ihm beinahe so vor, als stünde er mit ihr hinter den Spitzengardinen ihres Patrizierhauses, während Kullaway den Akt von ihr malte. Und noch während er sich das vorstellte, griff sie in ihren Nacken, knöpfte das Kleid auf und ließ es auf den Boden gleiten. Sie lehnte sich wieder an den Fensterrahmen. Sie war nackt und makellos, ihr kastanienbraunes Haar fiel weich über die zarten Schultern, ihr Rücken verjüngte sich zu einer schlanken Taille, dann wölbte er sich sanft über den Teilen, deren Berührung Snow kaum erwarten konnte. Ihre Beine waren wohlgeformt, aber nicht muskulös. Sie war alles, was er sich je erträumt hatte. Makellos. Er ging auf sie zu, halb in der Erwartung, dass sie sich in Luft auflösen würde, sobald er die Hand nach ihr ausstreckte.
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