Ausgelöscht
Stunden vor dem Maschendrahtzaun herumgedrückt haben mussten.
Cary Shuman war einer von ihnen, ein verbissener Schreiberling, der wie eine Wühlmaus mit Begeisterung unter dem Asphalt von Chelseas krummen Straßen gegraben hätte, wenn er dort eine Story vermutet hätte. »Schon irgendwelche Spuren, Doktor?«, brüllte er, als Clevenger auf den Eingang zuging.
Clevenger blieb nicht stehen.
»Stimmt es, dass Grace Baxter Ihre Patientin war?«
Das ließ Clevenger aufhorchen, doch er zwang sich weiterzugehen.
»Sie haben es geschafft«, begrüßte ihn Kim Moffett, als er zur Tür hereinkam, und trat hinter ihrem Schreibtisch hervor. Sie hatte sich bereit erklärt, länger zu bleiben. Sie trug eine schwarze Lederjacke, zerrissene Levis und Prada-Lederturnschuhe – eine ziemlich typische Aufmachung für sie.
»Danke, dass Sie länger geblieben sind«, sagte Clevenger.
»Kein Problem.«
»Alles in Ordnung?«
»Bestens. Ich habe jede Menge Gesellschaft, falls ich mich einsam fühlen sollte«, feixte sie und deutete mit einem Nicken auf Shuman und Konsorten draußen auf der Straße.
Er schmunzelte und machte Anstalten, in sein Büro zu gehen.
»Wissen Sie, Sie sehen nicht gut aus«, bemerkte sie. »Haben Sie überhaupt geschlafen?«
»Mir geht’s gut«, sagte er. Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. »Danke der Nachfrage.« Das tat sonst niemand mehr.
»Soll ich Ihnen etwas zu essen kommen lassen?«
»Ich besorg mir etwas auf dem Heimweg.«
»Lügner.«
Er lächelte sie an, drehte sich um und ging in sein Büro. Er hatte noch nicht ganz die Jacke ausgezogen, als die Gegensprechanlage summte. »Lindsey Snow ist hier«, verkündete Kim.
»Schicken Sie sie rein.« Er öffnete ihr die Tür.
Lindsey warf ihm einen schüchternen Blick zu, als sie an ihm vorbei ins Büro ging. Sie trug dieselben engen Jeans und denselben Pullover wie am Vormittag, aber sie hatte sich zurechtgemacht, hatte sich geschminkt und Parfüm aufgelegt und das Haar zu einem Zopf gebunden.
»Ich bin froh, dass Sie gekommen sind«, sagte Clevenger. Er deutete auf den Sessel, in dem Grace Baxter gesessen hatte. »Bitte.«
Sie setzte sich.
Er nahm im Schreibtischsessel Platz, drehte sich zu ihr um und sah, dass sie weinte.
»Warum krieg ich mich einfach nicht in den Griff?«, fragte sie.
»Vielleicht, weil das niemand von Ihnen erwarten kann«, sagte Clevenger.
Sie wischte sich die Wangen ab, doch die Tränen strömten weiter.
Er ließ sie in Ruhe weinen. Er musterte sie dabei und sah von neuem ihre unverstellte Sinnlichkeit, noch immer auf der Schwelle zwischen Pubertät und Erwachsensein, gestrandet in einem Niemandsland – zu fraulich für die Jungen in ihrem Alter, zu jung für erwachsene Männer.
Nach einer Weile schienen die Tränen zu versiegen. »Ich habe Ihnen heute Vormittag nicht alles erzählt«, sagte sie.
Clevenger wartete, denn er erinnerte sich daran, dass sie sich blitzschnell in sich zurückzog, wenn man sie drängte.
»Ich habe etwas Schlimmes getan.«
Wieder ein Köder. Er schnappte nicht danach. »Sind Sie sicher, dass Sie mit mir darüber reden wollen?«, fragte er.
Sie zuckte nur mit den Achseln.
Einige Augenblicke verstrichen. Er fragte sich, ob er zu distanziert war. »Sie können mich nicht vergraulen.«
Sie schloss die Augen, schluckte schwer, dann schlug sie die Augen wieder auf und sah ihm ins Gesicht. »Ich habe ihm nicht einfach nur gesagt, dass ich wünschte, er wäre tot. Ich habe ihn dazu gebracht, den Tod
herbeizusehnen
. Ich meine, ich habe ihm etwas genommen, das ihm Lebensmut gegeben hat.«
»Und was war das?«
»Eine
Frau
.« Ihre Wangen wurden rot. Sie blickte zu Boden. »Er hatte ein Verhältnis.«
Die Verbitterung in ihrer Stimme klang, als ob ihr Vater sie betrogen hätte, nicht ihre Mutter. »Mit wem?«, fragte Clevenger.
»Sie hieß Grace Baxter. Sie hatte eine Kunstgalerie.« Sie presste die Knie zusammen. »Sie hat auch Selbstmord begangen. Gleich nach meinem Vater.« Sie ließ den Kopf hängen. »Ich bin ein sehr schlechter Mensch.«
»Wie haben Sie das mit ihr und Ihrem Vater herausgefunden?«
»Sie hat einmal bei uns zu Hause angerufen«, sagte Lindsey und sah ihn dabei an. »Sie war, naja, irgendwie komisch am Telefon. So als würde sie mich kennen oder so. Und die Art, wie sie seinen Namen ausgesprochen hat … Es war widerlich. Ich habe Collin, den Geschäftspartner meines Vaters, nach ihr gefragt.«
Das stimmte mit dem überein, was Coroway Clevenger erzählt
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