Ausgelöscht
Dreck behandelt hat. Ich wollte nicht, dass er sich davon einlullen ließ und dann herausfinden musste, dass wir alle ihretwegen fallen gelassen wurden.«
Kyles sich entwickelnde Beziehung mit Snow hätte eindeutig eine Bedrohung für Lindseys Sonderstellung in Snows Leben bedeutet. Indem sie Kyle von Grace Baxter erzählte, hatte sie nicht nur die Affäre ihres Vaters torpediert, sie hatte auch jede Chance auf ein wirkliches Vater-Sohn-Verhältnis zunichte gemacht. »Wann hat er George Reese den Brief gebracht?«
»Vor einer Woche.«
Diese Information war alles, was Coady brauchte, um Reese für ein Verhör aufs Präsidium zu holen. Er hatte ein Motiv für einen der beiden Morde; er wusste, dass seine Frau eine Affäre hatte und mit wem. Und er wusste, dass es nicht nur ein kurzes Abenteuer war. Sie liebte Snow. Sie wollte ohne Snow nicht weiterleben.
»Das war das Ende zwischen ihr und meinem Dad«, fuhr Lindsey fort.
»Wie können Sie sich da sicher sein?«
»Durch sein Handy. Kyle ist ins Internet gegangen und hat einen Weg gefunden, eine Liste von Dads Anrufen einzusehen. Er hat sie von jenem Tag an nie wieder angerufen.«
»Ich schätze, Sie haben erreicht, was Sie erreichen wollten.«
Lindsey zuckte mit den Achseln. »Ich schätze, sie hat letztendlich ihre Drohung wahr gemacht«, sagte sie, ohne sonderliche Anteilnahme.
Den »Abschiedsbrief« an Reese zu übergeben mochte tatsächlich in letzter Instanz zu John Snows Tod geführt haben – und zu dem von Grace Baxter. Aber Lindsey wirkte nicht sonderlich reuig. »Ich bin froh, dass Sie es mir erzählt haben«, sagte Clevenger. »Es braucht viel Mut, so etwas einzugestehen.«
Sie zog die Knie an die Brust, wie im Pick-up, und legte den Kopf darauf. »Ich fühle mich so geborgen bei Ihnen«, sagte sie. »Ich könnte Ihnen alles erzählen. Geben Sie jedem dieses Gefühl?«
»Nicht jedem«, sagte Clevenger.
»Ich schätze, das ist so eine Anziehungssache. Ich meine, Therapie ist eine sehr intime Beziehung.«
»Das hier ist keine Therapie.«
»Was ist es dann?«
Clevenger antwortete nicht. Er war nicht Lindseys Psychiater, aber er hatte sie in seine Praxis eingeladen. Vielleicht war das ein Fehler gewesen.
»Wem erzählen Sie Ihre Sachen?«, fragte sie.
Clevenger erkannte, dass sie die Grenzen zwischen ihnen immer mehr zu verwischen suchte. Jetzt wollte sie
seine
Therapeutin sein oder gar mehr. Wenn man einen Vater hatte, der einem scheinbar die Möglichkeit einer vollständigen Vereinigung offerierte, konnte man am Ende überall dieser Illusion nachlaufen, mit jedem Ersatzvater, den man fand. »Ich würde Sie mit meinen ›Sachen‹ nicht belasten wollen«, erklärte Clevenger.
»Mir macht es nichts aus.«
»Sie brauchen sich meinetwegen keine Sorgen zu machen«, sagte Clevenger. »Ich komme schon zurecht.«
Sie sah ihn noch warmherziger an. »Ich wette, Sie haben niemanden, bei dem Sie sich anlehnen können. Sie sind ein Einzelgänger. Sie hören sich die Geheimnisse anderer Leute an, aber Ihre verraten Sie niemandem.« Sie kaute an ihrer Unterlippe. »Habe ich Recht?«
In diesem Moment erkannte Clevenger, wie es passieren konnte, dass ein Psychiater vom rechten Pfad abkam. Denn was Lindsey Snow über ihn sagte, stimmte zum Teil. Es war schön, so etwas zu hören, Verständnis zu finden, selbst bei einer Achtzehnjährigen. Und obgleich sie noch so jung war, wäre es leicht gewesen, die psychologische Dynamik zu vergessen, die sie diese Dinge sagen ließ– die Übertragung auf ihren Vater. Es wäre leicht gewesen zu glauben, dass tatsächlich ein besonderes Band zwischen ihnen bestand. »Ein Therapeut kann nicht über sich selbst reden, schon gar nicht mit …«
»Aber ich bin nicht Ihre Patientin.«
»Nein. Genau betrachtet nicht.«
»Na schön. Also … Was bin ich?«
»Sie sind die Tochter eines Mannes, der gestern gestorben ist. Ich untersuche seinen Tod. Wenn ich Ihnen helfen kann, tue ich das gern, aber …«
»Hören Sie sich nur mal selbst zu. Sie drehen sich im Kreis. Das ist doch alles ein Zirkelschluss. Ich kann nicht Ihr Freund sein, aber ich bin nicht Ihr Psychiater, aber wenn ich Ihnen helfen kann. Blablabla. Sie klingen wie Dad, wenn er wieder und wieder alles durchgegangen ist, um irgendein physikalisches Problem zu lösen. Keine Chance, dass Sie sich je erlauben würden, Ihren
Gefühlen
zu folgen. Alles immer genau nach Anleitung.« Sie ließ ihre Knie los und richtete sich langsam im Sessel auf. Dann stand sie auf,
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