Ausgeloescht
Dunkelheit und die Blumenwiese hinter meinen Augen.
Doch ich verberge mein Unbehagen.
»Ihr Vater war bei der Army?«
»Er hat in Korea gekämpft.« Sie schweigt und denkt über etwas nach. »Dafür war er geschaffen.«
»Wofür?« »Fürs Überleben.«
Ich habe Mercy eine Standardbefragung angeboten, von der Art, wie ich sie schon wenigstens zehnmal für die BAU, die Behavioral Analysis Unit, durchgeführt habe. Mercy hat akzeptiert, sei es aus Langeweile oder weil sie letzten Endes nicht anders war als die anderen. Ich weiß es nicht.
Ich betrachte es als Gelegenheit, den Versuch zu unternehmen, die Person zu verstehen, die mich beinahe zur Mörderin gemacht hat. Außerdem ist es eine Möglichkeit, Antworten auf einige Fragen zu erhalten. Bestimmte Einzelheiten wissen wir noch nicht. Sie nagen nachts in meinen Eingeweiden und stören meinen Schlaf.
»Warum war Überleben für ihn so wichtig?«
»Weil nur das Überleben wirklich zählt. Alles andere ist ein Bonus, keine Notwendigkeit.«
Meine Frage macht sie ungeduldig, sogar ein wenig feindselig. Ich denke über ihre Reaktion nach und lege einen anderen Gang ein. »Gut«, sage ich, um einen zustimmenden Tonfall bemüht. »Aber Ihr Vater scheint dieser Wahrheit ganz besonders angehangen zu haben. Was, glauben Sie, war der Grund, weshalb er sie so klar erkannt hat?«
Sie entspannt sich. Ich habe ihr versichert, dass ihr Vater nicht nur klug gewesen sei, sondern sogar ein Visionär. Damit befindet sie sich auf Terrain, das ihr angenehm ist. Dass er ihr die Brüste abgeschnitten und ihren Verstand verkorkst hat, spielt keine Rolle. Sie ist ein Krüppel, der glaubt, rennen zu können.
»Verschiedene Gründe. Er ist sehr arm aufgewachsen, das weiß ich. Seine Mutter war Prostituierte, sein Vater ein Trinker, der ihn missbraucht hat. Er hatte eine jüngere Schwester und einen jüngeren Bruder. Seine Mutter starb, als er noch klein war, und sein Vater ließ die Kinder auf den Strich gehen, damit er sich Schnaps kaufen konnte. Das alles hat meinen Vater darauf vorbereitet, die Wahrheiten des Lebens zu erkennen. Diese Wahrheiten hat er an mich weitergegeben.«
Es ist eine furchtbare Geschichte, aber mich berührt sie nicht. Ich habe von schlimmeren Dingen gehört, die guten Männern und Frauen zugestoßen sind -Menschen, die ihre Kinder nicht verstümmelt haben, nachdem sie aufgewachsen waren, und die keine Serienmörder wurden.
»Das muss schwierig gewesen sein«, räume ich ein.
Sie zuckt mit den Schultern. »So ist das Leben. Fressen oder gefressen werden.« »Wie haben sie es durchgestanden?«
»Zwei von ihnen haben es nicht geschafft. Die Schwester hat sich umgebracht. Der Bruder wurde von einem Freier ermordet.« »Und Ihr Vater?«
Ein stolzes Funkeln tritt in ihre Augen. »Als sein Bruder tot war, beschloss er, dass er genug hatte. Er tötete seinen Vater und begrub ihn mit dem Rest in den Wäldern. Dann ging er zur Army.«
»Warum hat er sich diesen Weg ausgesucht? Das Militär, meine ich.« »Pragmatismus. Die Army gab ihm Essen und Unterkunft und brachte ihm bei, wie man tötet. Außerdem war gerade der Koreakrieg im Gange.« »War das ein wesentlicher Faktor?«
Sie nickt. »Mein Vater sagte, Krieg sei ein blutiger Schmelztiegel. Als Mensch geht man hinein, und mit Tod in den Adern komme man heraus, härter und stärker.«
»Stärker weshalb? Weil man seine Menschlichkeit verliert?«
Sie schaut mich an, und ich sehe ihr in die Augen. Ich versuche, in die Leere dahinter zu blicken, doch dort gibt es nichts zu sehen.
»Sind Sie mit dem Buddhismus vertraut?«, fragt sie mich. Ich finde die Frage merkwürdig und zusammenhanglos.
»Nicht besonders.«
»In seinem Kern beruht der Buddhismus auf der Annahme, dass der Geist das Einzige ist, was wahr ist. Alles andere, was wir sehen oder fühlen«, sie schlägt sich auf die Brust und zeigt auf die schallgedämpften Betonmauern rings um uns, »all diese materiellen Dinge sind nur Illusion. Mara. Die Buddhisten bezeichnen jemanden, der glaubt, Mara wäre die Wirklichkeit und nicht die Seele, als >gefangen<. Verurteilt zum Kreislauf aus Wiedergeburt, Leben und Tod, den sie Samsara nennen. Zur Reinkarnation.«
Ich sage nichts. Es fasziniert mich, aus dem Mund eines Monsters eine Geschichte über die Seele zu hören.
»Aber nicht Mara ist die Illusion, sondern die
Seele.«
Sie knallt die Faust auf den Tisch. »Dieser Tisch ist real. Der Schmerz, den ich spüre, wenn ich zu fest daraufschlage, ist real.
Weitere Kostenlose Bücher