Ausgeloescht
Tag werden im südlichen Kalifornien.
Der Mann dreht sich und übergibt sich ins saftig grüne Gras. Ob Wochenende oder nicht, beim FBI herrscht immer Betrieb. Ich fahre hinauf zu AD Jones' Büro. Es sind noch drei andere Leute im Aufzug. Alle starren ungeniert auf mein Kleid. Keiner grinst. Wahrscheinlich wissen sie, dass die Sache nicht lustig ist. Schließlich gibt es nicht viele Gründe, eine FBI-Agentin von einer Hochzeit wegzureißen.
Während die Ziffern auf der Anzeigeleiste meinem Ziel entgegenklettern, denke ich an die Frau. Das Entsetzen in ihrem Blick hat sich bei mir festgesetzt. Es lag so viel Schrecken darin, so viel Leid. Mit einiger Mühe schüttle ich diesen Gedanken ab. Stattdessen frage ich mich, weshalb AD Jones mich mit solcher Eile herbestellt hat. Er ist nicht der Typ, der sich Dringlichkeiten ausdenkt.
Jones ist mein Beschützer und Mentor gewesen. Er hatte gleich zu Anfang meiner Polizeilaufbahn etwas in mir gesehen, das er dann nach Kräften gefördert hat. Das ist seine Art. Jones ist eine Seltenheit auf den Führungsetagen des FBI: Ein Mann, den Ergebnisse mehr interessieren als Karriere und Kompetenzgerangel.
Das
Pling
sagt mir, dass ich oben bin. Ich atme tief durch, steige aus dem Lift und gehe auf den Flur, biege rechts ab und sehe Shirley, Jones' langjährige Rezeptionistin. Sie ist zehn Jahre älter als ich, eine kleine, sachkundige Frau mit freundlichen, funkelnden grünen Augen, die ihr strenges Auftreten Lügen strafen.
»Wie war die Hochzeit?«, fragt sie.
»Großartig. Bis zu dem Moment, als der Wagen bei uns stoppte und uns die schreiende Frau vor die Füße warf.«
Sie bedenkt mich mit einem unsicheren Lächeln und einem Schulterzucken, als wollte sie sagen: Was soll man da machen?
»Wer ist drin, Shirley?«, erkundige ich mich.
Ihr Lächeln wird säuerlich. »Direktor Rathbun.«
Meine Brauen zucken in die Höhe. »Wirklich? Wissen Sie, warum?«
»Ich habe keinen blassen Schimmer. Trotzdem viel Glück.«
Ich blicke erneut an mir hinunter und seufze. »Danke.«
»Braten Sie ihnen eins über«, sagt Shirley, und ihre Augen funkeln mir ein bisschen zu sehr. Offenbar findet sie an der Situation allerhand Komisches.
Ich betrete das Zimmer, in dem AD Jones und Rathbun stehen. Sie machen nicht den Eindruck, als hätten sie einen Plausch gehalten. Es sieht eher so aus, als hätten sie auf mich gewartet. Ein Stück abseits steht noch jemand, den ich kenne: Rachel Hinson, eine attraktive Blondine, ungefähr in meinem Alter. Ihr Gesicht ist wie ein leeres Blatt Papier, ihr Blick wachsam. Sie hat ein Blackberry in der Hand und Bluetooth-Kopfhörer im Ohr und redet leise vor sich hin. Rachel ist Rathbuns Assistentin - die Frau fürs Grobe, wie ich immer sage, die mit jeder Aufgabe fertig wird. Sie weiß, wo die Leichen vergraben liegen, weil sie selbst das Vergraben übernommen hat.
Samuel Rathbun sieht mich und kurbelt seine Wattleistung an, um sein Politikerlächeln aufzusetzen und mir die Hand entgegenzustrecken. Ich werfe einen Blick zu AD Jones, dessen Augen mir ein Schwimme-mit-dem-Strom signalisieren. Ich erwidere Rathbuns Lächeln und schüttle ihm die Hand - fest, aber nicht zu fest.
»Danke, dass Sie gekommen sind, Agentin Barrett. Ich weiß, dass Sie etwas vorhatten.« Er deutet lächelnd auf mein Kleid.
»Ich bin immer im Dienst, Sir«, erwidere ich, was mir einen warnenden Blick des AD einbringt.
»Freut mich zu hören«, entgegnet Rathbun. Entweder entgeht ihm mein Sarkasmus, oder er beachtet ihn nicht. »Setzen wir uns.«
AD Jones setzt sich an seinen Schreibtisch, Director Rathbun und ich in die Sessel davor, ein bisschen schräg, damit wir uns anschauen können. Rachel Hinson bleibt im Hintergrund, wo sie weiter vor sich hin murmelt.
Ich nehme Rathbun kritisch in Augenschein. Er ist ein politisches Wesen, aber der Boss der Bosse, deshalb ruft er ein bisschen Ehrfurcht hervor. Er ist Anfang fünfzig, hat dunkles Haar mit der richtigen Menge Grau darin und dem üblichen (hier aber stilvollen) FBI-Schnitt. Er sieht ziemlich gut aus. Für mich wäre er nichts, aber ich schätze, die Rachel Hinsons dieser Welt finden ihn begehrenswert. Er steht in dem Ruf, rücksichtslos, aber fair zu sein, wobei die Fairness allerdings beiseitegelassen wird, wenn er den eigenen Hals retten muss. Aber das werfe ich ihm nicht vor: Er steht auf einem ganz anderen Spielfeld und ist dem Präsidenten, dem Generalbundesanwalt und ähnlich hohen Tieren verantwortlich. Außerdem
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