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Ausgeloescht

Ausgeloescht

Titel: Ausgeloescht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cody Mcfadyen
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Manche meinen, dass er verrückt war, andere halten ihn für ein Genie. Ich zum Beispiel.«
    Der Junge kniff die Augenbrauen zusammen und suchte nach dem Sinn dieser Lektion.
    »Du meinst, er war schlau?«
    »Schlau ist man, wenn man das Einmaleins beherrscht. Genial sein heißt, ein anderes Licht auf die Welt zu werfen.«
    Der Junge runzelte die Stirn; er hatte Mühe mit diesen Gedankengängen. »Ich verstehe nicht«, gab er zu.
    »Manche Menschen blicken auf die Welt und sehen sie anders als andere Leute, Sohn. Sie versuchen, uns ihre Sicht der Welt durch Gemälde oder Gedichte mitzuteilen oder durch die klassische Musik, die wir manchmal hören.«
    »Wie Beethoven? Die Neunte?«
    Der Junge mochte die neunte Symphonie sehr. In seinem mühseligen, eingleisigen Leben war sie das Licht, das durch das Kerkerfenster schien. Wenn er diese Musik hörte, strömte das Blut schneller durch seine Adern.
    »Ja, wie Beethovens Neunte.«
    Der Junge schaute mit neuem Interesse auf das Dali-Buch. »Und du meinst, dieser Maler tut dasselbe mit seinen Bildern?« »Für mich schon. Du siehst es vielleicht anders.«
    Eine heftige Verwirrung erfasste den Jungen. In seiner Welt hatte sein Vater immer recht.
    »Das begreife ich nicht. Wie kann ich etwas anders empfinden als du?« »Ich erziehe dich zur Stärke, Sohn, denn die Welt da draußen ist voller Schwäche. Verstehst du?« »Ja.«
    »Doch hierbei«, sein Vater deutete auf das Buch, »oder bei der Musik oder der Poesie sind die Dinge nicht so klar. Aber das ist in Ordnung.« Sein Vater strich mit der Hand über das Buch, eine zärtliche Geste, die der Junge noch nie bei ihm gesehen und nur selten gespürt hatte. »Dalis Gemälde sprechen mich an. Dich vielleicht nicht. Deshalb musst du selbst herausfinden, was dich anspricht.«
    Der Junge dachte darüber nach, mühte sich mit der Vorstellung ab und fand nur zu einer einzigen Frage:
    »Warum?«
    Sein Vater musterte ihn mit ernstem Blick. »Der Schlüssel zum Überleben ist nicht Zähigkeit, sondern Schnelligkeit. Man muss schneller als die anderen denken, handeln und notfalls töten. Du wirst nie so schnell sein, wie du sein könntest, wenn du das, was dich anspricht, nicht findest. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber es ist so.«
    Warum hast du das nicht gleich gesagt, ging es dem Jungen durch den Kopf, doch er sprach es nicht aus.
    »Finde etwas, das dich anspricht, Sohn, weil es dich schneller machen wird. Es ist wie ein Zauber, der wirkt, ohne dass wir den Grund dafür wissen. Wir lesen Gedichte, wir hören Musik, und es macht uns schneller und stärker.«
    »Den Körper und die Seele?«, fragte der Junge.
    Der Vater beugte sich vor, ragte wie ein düsterer Turm über seinem Sohn auf und erdrückte ihn mit seiner finsteren Präsenz. »Es gibt keine Seele, Sohn. Es gibt nur Fleisch und Blut. Vergiss das nie.«
    »Jawohl, Sir.«
    Und er vergaß es nie.
     

Kapitel 9
    Als ich aufwache, bin ich erschöpft, aber nicht unglücklich. Ich empfinde die träge, wohlige Mattheit, die sich einstellt, wenn man gute Arbeit geleistet hat.
    Im tiefsten Innern habe ich es wahrscheinlich schon gewusst. Ich habe gewisse Dinge schleifen lassen, was Bonnie betrifft, wegen ihrer Vergangenheit, und das war ein Fehler. Ich finde, jetzt bin ich auf dem richtigen Weg, diesen Fehler zu korrigieren.
    Tommy ist längst aufgestanden. Er gehört zu diesen infernalischen Morgenmenschen, die um sechs Uhr oder früher aufwachen und sofort aus dem Bett springen. Er geht morgens gerne joggen, was für mich eine Albtraumvorstellung ist.
    Manchmal werde ich wach, wenn er seine Sportsachen anzieht, und schaue ihm mit einem trüben, aber anerkennenden Auge zu.
    Ich horche mit einem Ohr, schnuppere. Ich höre Stimmengemurmel von unten und rieche den köstlichen Duft von brutzelndem Speck. Das reicht, um mich aus dem Bett zu treiben. Tommy macht immer ein großartiges Frühstück.
    Ich wanke in die Dusche und drehe sie heiß auf. Die Dusche ist mein Wonneplatz. Vor sechs Jahren hat Matt mir eine Superdusche zum Geburtstag geschenkt. Eine Firma hat die alte Kabine aus PVC herausgerissen und ein thermostatgesteuertes, doppelköpfiges Marmor-Glas-Wunderding installiert. Die Dusche hat sogar einen Sitz, auf den ich mich niederlassen und beobachten kann, wie der Dampf aufwölkt, während ich allmählich wach werde oder mir die Beine rasiere. Ich finde es jeden Morgen großartig, und heute ist es nicht anders.
    An beiden Duschköpfen lässt sich die Brausestärke

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