Ausgeloescht
umbringen?«
»Ja.«
Ich versuche gar nicht erst, meine Bestürzung zu verbergen. »Aber warum? Warum wolltest du tun, was diese Leute tun?«
»Um sie zu verstehen. Damit ich sie später schnappen kann«, flüstert sie, und ihre Stimme klingt verzweifelt.
Der Morast, durch den ich mich gewühlt habe, verschwindet. Ich kann das Metronom meines Herzens wieder spüren. Aus irgendeinem Grund denke ich an Hawaii, wo ich gedacht habe, am Strand den Herzschlag Gottes zu hören.
»Sieh mich an, Bonnie.« Es dauert einen Moment, aber sie tut es. »Und? Wie denkst du jetzt darüber? Hat es dir geholfen?«
»Nein«, flüstert sie. In ihren Augen schimmern Tränen. »Nein, es hat nicht geholfen.«
Ich lasse nicht nach. »Wie denkst du jetzt darüber?«
Was ich als Nächstes sehe, ist keine Trostlosigkeit, keine Trauer, sondern Verzweiflung. Bonnie lässt ihren Tränen nun wieder freien Lauf. Sie kullern ihr über die Wangen, tropfen vom Kinn auf Ärmel und Jeans. »Ich fühle mich mies«, sagt sie schluchzend. »Ich fühle mich wie ...« Sie schließt die Augen, und Selbsthass verzerrt ihr Gesicht. »Wie der Mann, der meine Mom getötet hat.«
Ich will sie an mich ziehen, ihr Geborgenheit geben. Ich will ihr sagen, dass alles gut ist, dass sie nicht böse ist, dass sie sich selbst verzeihen soll, was sie getan hat. Doch irgendetwas hält mich davon ab.
Das reicht nicht.
Ich weiß nicht genau, woher der Gedanke kommt, aber ich stelle ihn nicht infrage, weil die Stimme, die diesen Gedanken in Worte fasst, meine eigene Stimme ist und weil ich das Gefühl kenne, das mich nun erfüllt: Es ist dasselbe Gefühl, das ich habe, wenn ich an einem Fall arbeite und wenn Dinge, die zuvor nichts miteinander zu tun hatten, plötzlich zusammengehören.
Bonnie hat ihre Mutter durch einen Verrückten verloren. Sie musste zusehen, wie er Annie überwältigt, vergewaltigt und aufgeschlitzt hat. Dann nahm er Bonnie mit sanfter, aber unerbittlicher Hand und fesselte sie an die Leiche. Ich habe mir nie vorstellen können, wie jemand drei solche Tage erlebt, schon gar nicht ein zehnjähriges Mädchen.
Bonnie hat oft zu mir gesagt, dass sie später dasselbe machen möchte wie ich. Sie will Bestien in Menschengestalt jagen. Manchmal ist in ihren viel zu alten Augen eine seltsame Starre, eine bohrende Traurigkeit. Ab und zu treffe ich sie dabei an, wie sie den Sonnenaufgang beobachtet, und mache mir Sorgen um sie. Doch bisher verschwand das alles immer wieder, und die unverwüstliche Dreizehnjährige kam wieder zum Vorschein.
Aber diesmal ist es anders. Wir stehen an einem Scheideweg. Ich kann nicht sagen, woher ich das weiß, aber es ist so. Entweder rette ich Bonnie hier und jetzt, oder sie wird mir entgleiten, immer weiter, bis sie eines Tages an einem Ort ist, an dem ich sie nicht mehr erreichen kann.
Bonnie ist kein schlechter Mensch, aber ...
Sie könnte einer werden,
beendet meine innere Stimme den Satz.
Ich weiß das, weil ich selbst an diesem Punkt gewesen bin. Es gibt eine Trennlinie, an der das Verstehenwollen zu viel wird, sodass man an seinem Wissen zu ersticken droht. Ich war zwanzig, als ich diese Grenzlinie erreichte. Bonnie aber ist erst dreizehn. Sie ist noch in der Entwicklung. Da sind sieben Jahre wie eine ganze Lebensspanne.
Bonnie hat eine Katze gefangen und ihr in den Kopf geschossen, weil sie nachempfinden wollte, was die Bösen empfinden. Nun weint sie und ist verzweifelt, aber das reicht nicht. Es ist keine Garantie, dass Bonnie sie selbst bleibt.
Ich versuche, meinen Beschützerwillen zurückzudrängen, den Wunsch, ihr die Tränen abzuwischen. Es fällt mir nicht leicht, aber auch nicht so schwer wie manch anderen vielleicht. Wenn man Verdächtige befragt, muss man lernen, jedes Mitgefühl beiseitezuschieben. Der brutalste Vergewaltiger und der schlimmste Mörder sind auch nur Menschen. Einmal geschnappt, klappen die meisten früher oder später zusammen und treten den inneren Rückzug an. Was sie so furchterregend macht, ist vor allem das Rätsel, wer sie wirklich sind. Was dann noch von ihnen übrig bleibt, ist meistens jämmerlich.
Es ist ganz natürlich, Mitgefühl zu entwickeln, aber man muss es überwinden. »Wir alle haben ein Stück kalten Granit in uns«, hat Alan einmal zu mir gesagt.
»Der eine mehr, der andere weniger. Ein guter Vernehmungsbeamter lernt, hin und her zu springen. Er kann liebevoll sein wie eine Mutter und gnadenlos wie ein Henker. Das kann ziemlich hart sein, darum muss man das
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