Ausgerockt - [Roman]
das?«
Holger blieb abrupt stehen und fuhr herum. »Wir machen eine Demo.«
Linus zog die Augenbrauen hoch.
Holger sagte: »Du erinnerst dich vielleicht an die Jungs aus der Passage? Weißt schon, neulich.«
Linus schwieg. Er ließ seinen Blick entgeistert zwischen Holger und dem Pulk hin- und herwandern.
»Na, du weißt doch. Die Punks, die meiner Rede eine Sinnhaftigkeit gaben. Applaudarische Bestätigung.«
»Applaudarische Bestätigung? Meine Fresse, Holger!«
»Die sind gut drauf. Als ich sie gefragt habe, ob sie bereit sind, Teil einer großen Sache zu werden, da haben die nicht lange überlegt, das kann ich dir sagen.« Er nickte mit großen Augen.
Auch Linus’ Augen wurden größer. »Teil einer großen Sache?«
»Ja. Wir retten unsere Musikkultur. Stell dir vor, ausgerechnet die Anarchisten von damals und heute kämpfen für einen kulturellen Werterhalt. In gewisser Weise. Das darf ich den Punks gegenüber so natürlich nicht formulieren. Glaub ich ja selbst nicht.«
»Du spinnst.« Linus wackelte mit dem »MUSIK IST TOT«-Schild, damit Holger es ihm endlich abnahm. Stattdessen führte er jedoch Linus’ Arm in die Höhe. »Ja, halt es hoch. Wir zeigen’s allen.«
Linus entriss ihm erneut den Arm und drückte ihm energisch die Pappe vor den Bauch.
»Was hast du denn? Du kannst Teil einer großen Sache sein.« Holger grinste sein jungenhaftes Grinsen. »Ich mache dich zu meiner rechten Hand. Fidel und Raúl.«
Linus ließ sich nicht beeindrucken. »Ich habe kein Interesse, Teil einer großen Sache zu werden. Nimmst du mir jetzt mal das Schild ab?«
Holger nahm es und zuckte mit den Schultern. »Du kannst auch Schriftführer werden. Oder Kassenwart.«
»Kassenwart.« Linus sah nachdenklich zum Mob hinüber. »Habt ihr das überhaupt angemeldet?«
»Angemeldet? Nee. Aber wir stören ja niemanden. Siehst du den Crêpes-Stand da vorne?« Er zeigte auf eine kleine Bude an einem Vorplatz an der Nordseite. »Der Typ hat uns sogar erlaubt, ein paar Flugblätter auf seinen Tresen zu packen. Der verteilt sie für uns.«
Linus richtete seinen Blick nach Holgers Fingerzeig. Gegenüber vom Crêpes-Stand befand sich eine Bratwurstbude. Die beiden Frauen, die dort arbeiteten, sahen nicht so aus, als seien sie über die Lärmschlägerei besonders begeistert.
Holger hielt Linus einen kleinen gelben Zettel unter die Nase. »Hier. Hab ich heute Morgen gemacht. Gelb ist die Farbe unserer Revolution«, sagte er und zupfte an seinem Pullover herum, während Linus begann, den Zettel zu lesen.
Musik ist Teil unserer Kultur. Musik ist Teil unseres Lebens. Wir hören Musik mit unserer Seele. Sie kann uns in den Selbstmord treiben, aber sie kann uns auch dazu anstiften, die Welt zu retten. In der Geschichte der Menschheit war Musik der Soundtrack zu Abermillionen von Liebesgeschichten.
In unserem Land herrschen jedoch Strukturen, die uns den Zugriff auf die schier unerschöpflichen musikalischen Quellen versagen. Wir bekommen nur einen lächerlichen Bruchteil des Gesamtvorkommens vorgesetzt. Kapitale Kräfte sind nicht an Vielfalt interessiert, sondern an einer kalkulierbaren Überschaubarkeit musikalischen Geschmacks.
Linus las nicht weiter. Entgeistert hielt er Holger den Zettel hin. »Meinst du das ernst?«
»Klar.«
»Warst du schon mal auf Youtube? Oder auf MySpace? Ich finde, da kann man nicht gerade von mangelnder Vielfalt sprechen.«
»Richtig«, sagte Holger. »Aber es geht nicht um das Internet. Das ist ohnehin ein anarchistischer Ort. Youtube wurde von mittellosen Studenten erfunden und jeden Tag könnte es mit der Freiheit dort vorbei sein. Es wird doch jetzt schon instrumentalisiert. Es geht hier darum, dass das gewaltige Kapital der Musikindustrie erbärmlicherweise in den Versuch einer Geschmacksgleichschaltung gesteckt wird. Und wir …« Er tippte Linus mit einem Finger auf die Brust. »… sind die Leidtragenden. Du und ich, diejenigen, die sich noch Platten kaufen. Warte mal.«
Holger winkte einem älteren Herrn, der sich zögernd aus dem Pulk löste und zu ihnen her trottete. Je näher der Mann kam, desto kleiner schien er zu werden. Er trug einen Hut und ein altes braunes Jackett, das vor seinem Bauch straff mit einem Knopf geschlossen war. Er hatte einen Knirps unter den Arm geklemmt.
Holgers Brust schwellte vor Stolz. »Das ist Jupp Gossels.«
»Moin«, sagte der Mann.
Holger legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Jupp war jahrelang in der Bürgerschaft und hat dort wichtige
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