Ausgerockt - [Roman]
bedeutungsvoll durch die Passage wie die eines Priesters in seiner Kirche: »Vergessen Sie mich nur nicht. Denken Sie an meine Worte, wenn sie das nächste mal vor der Glotze sitzen und ihnen eine Hotel-Erbin ins Gehirn scheißt. Scheißen Sie zurück!«
Nach Wochen emotionaler und geistiger Stagnation zwischen Verkaufsregalen, Rolltreppen und Menschen mit Plastiktüten fühlte Linus sich ausgebrannt.
Nur selten empfand er Freude. Die Erkenntnis, dass ausgerechnet eine Situation wie Holgers improvisierte Rede in der Einkaufspassage ihm kurzzeitig Auftrieb verschafft hatte, beunruhigte ihn.
Es war einer der ersten Frühlingstage des Jahres. Am Morgen hatte Linus das Gefühl gehabt, etwas tun zu müssen, etwas verändern zu müssen, mehr sein zu wollen als nur ein Teil der städtischen Menschenströme.
Aber er hatte keine Ahnung, wie diese Veränderung aussehen sollte. Daher war er einfach in ein Internetcafé am Brill gegangen, hatte sich eine Stunde Zugang und einen starken Kaffee gekauft und auf einem Portal für Stellenangebote gesurft. Zunächst gab er in Erinnerung an Holgers Vortrag den Begriff Popstar ein. Natürlich erwartete er keine Ausbildungsangebote für den Beruf des Popstars.
Auch die Eingabe Rockstar tätigte er mit einem müden Grinsen. Nachdem er dann erfolglos die Begriffe Musikscout und Musikredakteur eingegeben hatte, entschied er sich für den Getränkehändler. Er brauchte Ergebnisse.
Tatsächlich führte der Begriff zu einigen Treffern. Aus einer Laune heraus verfasste er eine Mail an eine kleine Getränkemarktkette namens DRINK, deren Inhaber einen Mitarbeiter für das Lager suchte.
Linus hatte nicht die Absicht, dort zu arbeiten. Aber der Drang, die anhaltende Lethargie zu beseitigen, flackerte plötzlich so stark, dass er unter seinen nicht ganz ernst gemeinten Text (»Im Übrigen habe ich mich schon immer für Getränke interessiert«) übermütig seinen Namen und seine Telefonnummer setzte und »senden« anklickte.
Anschließend trottete er zu McDonalds. Er entschied sich für zwei Cheeseburger und eine Cola.
In jeder beliebigen Imbissbude wäre er schneller an sein Mittagessen gekommen. Das Gedränge vor den Kassen, die schreienden Kinder, sich anpöbelnde Jugendliche und der aufdringliche Signalton der Pommes-Fritöse machten ihn nervös.
Nachdem er seine Bestellung erhalten hatte, verließ er das Schnellrestaurant.
Er aß die Cheeseburger im Gehen, trank die Cola im Bus und verschwand in seiner Wohnung, immer noch hungrig, aber froh, der Unruhe entkommen zu sein.
Er legte die Greatest Hits von The Psychedelic Furs ein und ging in die Küche, um sich einen Eistee und eine Pizza zu machen. Nachdem er den Ofen angedreht hatte, zog er unter dem Küchenschrank eine kleine Plastiktüte hervor.
Er nahm einen Bündel Geldscheine heraus, ging in sein Zimmer und breitete die Scheine gleichmäßig auf dem Laminat aus, als würde er ein Memory-Spiel legen.
Während die Furs Love My Way spielten und der Ofen vorheizte, zählte er das Geld. Zweimal, dreimal, um sicher zu gehen.
Das Ergebnis blieb jedoch dasselbe: Linus hatte nicht mehr viel Geld. Noch elftausendzweihundertfünfzig Euro.
Bei dem Anblick der Scheine musste er unweigerlich an Cathy denken.
Er war ihr nur ein einziges Mal begegnet. Damals hatten Mark und Cathy geheiratet, und Linus war mit Tante Hannah in die USA gereist, um bei der Trauung dabei zu sein.
Cathy wusste über das Sozial- und Steuersystem in Deutschland gut Bescheid. Und sie ahnte, dass ein Achtzehnjähriger, der keinerlei Bezugspunkte hatte, zumindest ein paar Tipps, dieses klägliche Mindestmaß an Hilfe, gebrauchen konnte.
»Wenn du nicht in fünf Jahren alles los sein willst«, beschwor Cathy ihn telefonisch aus Vermont, »lass es vorher verschwinden. Lass es verschwinden und beantrage Wohngeld, Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, was immer du in Deutschland kriegen kannst. Und geh arbeiten!«
Cathy Keller war schlau. Linus auch. Er befolgte ihren Rat.
Danach rief Cathy noch ein paar Mal an, bestellte Grüße von Mark und manchmal nahm Mark auch selbst für ein paar Minuten den Hörer, zuletzt am 12. September 2001, um Linus zu fragen, wie die Stimmung in Deutschland sei.
Cathy rief im selben Jahr zu Weihnachten noch einmal an und wünschte ihm ein schönes Fest. Danach war jedes Jahr im Dezember eine Grußkarte gekommen. Winterlandschaften, handgemalt, von Kindern einer Behindertenwerkstatt in Burlington.
Die letzte Karte kam vor drei Jahren. Seitdem
Weitere Kostenlose Bücher