Ausgerockt - [Roman]
nachzudenken.
In erster Linie sorgte Linus für Ordnung. Der Platz in Markt und Lager war begrenzt. Jede Ecke musste genutzt werden, jede Kiste voll mit passenden Flaschen sein, bevor die nächste Lage aufgestapelt wurde. Es war wie ein großes Tetris-Spiel, fand Linus. Es ging darum, gut zu stauen.
Linus half auch bei der Warenannahme. Meistens aber hielt er sich an der Endstelle der Pfandautomaten auf, wo er Flaschen nachsortierte und in Kisten räumte.
Montags bis Mittwochs arbeitete er an den Nachmittagen. Donnerstags arbeitete er vormittags, weil am Nachmittag Drinks Sohn Joscha zum Aushelfen kam.
Joscha Drink fand seinen Nachnamen, im Gegensatz zu seinem unbekümmerten Vater, etwas lästig.
Das Erste, was er zu Linus gesagt hatte, als sie sich kennenlernten, war: »Sag jetzt nicht, dass es gut passt, wenn ein Drink im Getränkemarkt arbeitet.«
Joscha hatte ihm die Hand gereicht und hinzugefügt: »Den Spruch hab ich nämlich schon ein paar Mal gehört, wie du dir vielleicht denken kannst.«
Linus hatte genickt und seitdem dachte er jedes Mal, wenn er Joscha zur Begrüßung die Hand reichte, wie gut es doch passte, dass ein Drink im Getränkemarkt arbeitete.
Joscha war einundzwanzig. Ein großer athletischer Kerl, Jurastudent im dritten Semester, mit langen Haaren und Seitenscheitel.
Joscha spielte Gitarre in einer Band namens Grobians . Er bezeichnete die Musik seiner Band als Britpop mit sozialkritischen deutschen Texten. Linus hatte es zur Kenntnis genommen. Seitdem hoffte er, dass Joscha nicht ständig über seine Musik und seine Band und Demo-Tapes sprechen wollte.
Es war Donnerstag. Linus arbeitete länger, weil Joscha sich frei genommen hatte, um an einer wichtigen Band-Beprechung teilnehmen zu können.
Um halb sechs nahm Linus noch eine Lieferung Bionade an, scherzte mit Walther über die zahlreichen neuen Bezeichnungen für Brause und aß eine Tüte Chips, die aus einem Karton mit kürzlich abgelaufenem Haltbarkeitsdatum stammte.
Nach Feierabend fuhr er mit der Straßenbahn zurück ins Zentrum. Am Brill stieg er aus. Von dort lief er die Treppen hinab zum Weserufer und spazierte an der unteren Promenade entlang.
Die Bars und Restaurants hatten ihre Biergärten bereits geöffnet.
Linus setzte sich auf die weiten, langgezogenen Steinstufen, die den Beginn des Osterdeiches markierten. Von hier setzte der Deich sich in leichtem Bogen bis hin zum Weserstadion fort.
Linus hatte bereits die letzten beiden Samstagnachmittage hier verbracht, mit ein paar Dosen Bier im Rucksack und einem Döner in der Hand. Er hatte sich die Menschen mit den grün-weißen Schals angesehen, die alle zwei Wochen nach dem Heimspiel den Osterdeich entlangspazierten, auf dem Weg in eine der Gaststätten, um bei einem Getränk oder einem Snack die Einzelheiten der Partie zu diskutieren.
Er hatte sich vorgestellt, dass er selbst mit ein paar Freunden oder einer Freundin samstags in einem Biergarten saß, etwas aß und auf das Spiel wartete. Dass sie sich noch eine Weile die Sonne ins Gesicht scheinen ließen und dann ins Stadion gingen, um ihrer Mannschaft die Daumen zu drücken. Dass sie danach zusammen ins Kino gingen, und schließlich nach Hause. Sie würden gut schlafen. Er würde gut schlafen, die ganze Nacht durch, still und zufrieden, ohne um drei Uhr wach zu werden und beunruhigt in seinem Bett zu liegen und das Gefühl zu haben, sich in einem trüben, fremden Leben zu befinden.
Das Telefon in seiner Jacke signalisierte den Eingang einer Nachricht.
Obwohl es unrealistisch war, hoffte Linus beim Piepen seines Telefons manchmal immer noch auf eine Nachricht, die ihn glücklich machen würde, zumindest für den Moment. Es war ein Reflex. Pawlowscher Hund.
Er verband den Signalton noch mit einer Zeit, in der er getextete Gutenachtküsse von Natascha bekommen hatte.
Das Telefon hatte damals regelmäßig diesen bestimmten elektronischen Ton von sich gegeben, und sein Herz hatte jedes Mal augenblicklich höher geschlagen.
Er schaute auf das Display. Zwei ungelesene Nachrichten. Die erste Nachricht war von Holger.
früher hat n guter song dich direkt ins herz getroffen. heute trifft er dich im schwanz. nur noch fickmucke auf mtv! zum kotzen!
Linus archivierte die Nachricht. Er wusste nicht warum. Möglicherweise wollte er Holger irgendwann einmal alle Nachrichten zeigen. Irgendwann, wenn sie alt waren und über alles lachten. Würden sie das jemals tun? Über alles lachen?
Die zweite Nachricht stammte ebenfalls
Weitere Kostenlose Bücher