Ausgerockt - [Roman]
von Holger.
hab unsere kleine casting show bei youtube hochgefahren. wenigstens den teil, den man erkennen kann. du bist ein mieser kameramann.
Er archivierte auch diese Nachricht.
Beinahe zwei Monate hatten sie nicht miteinander gesprochen. Ihr letzter Kontakt war ein Telefonat gewesen, einen Tag nach dem Casting von Deutschland sucht den Megastar .
Holger hatte angerufen und Linus’ mangelndes Engagement beklagt. Er hatte sich von ihm im Stich gelassen gefühlt, da Linus alles andere als ein vollständiges Filmdokument von Holgers spektakulärem Auftritt erstellt hatte.
Das Gespräch dauerte über eine Stunde. Eine emotionale, destruktive Diskussion.
Er habe sich schließlich nicht aufgedrängt, meinte Linus.
Dennoch, sagte Holger, habe er sich auf ihn verlassen, auf seine Mitarbeit. Schließlich sollte es ein Dokument für das Archiv geben. Damit der Vorgang in der globalen Historie übermittelt werde und auch für spätere Generationen nachvollziehbar bleibe.
Ein anstrengendes Telefonat. Aktion, Reaktion. Vorwürfe, Entschuldigungen, Abwehr, Resignation. Während des Gesprächs verköstigte Holger sich mit Wein und büßte alle fünf Sätze ein Stück seiner Artikulationsfähigkeit ein. Ständig hörte Linus ihn gluckern.
Er hatte Holgers Mischung aus Selbstmitleid, Größenwahn, Stolz und Wut nur schwer ertragen. Davon trug er schließlich selbst genug in sich.
Linus wachte immer häufiger mitten in der Nacht auf.
Manchmal lag er da und starrte die Lichtflächen an, die von den Straßenlaternen an seine Zimmerdecke geworfen wurden und von den Fenstersprossen in einzelne Figuren geteilt wurden. Manchmal knipste er die Lampe auf dem Schreibtisch an, schlurfte in die Küche und setzte sich einen Tee auf.
Dann stand er lange an die Küchenzeile gelehnt, lauschte dem Wasserkocher und schüttelte bitter lächelnd den Kopf.
Dann dachte er an den Getränkemarkt.
Er war sich nicht zu schade für den Job, keinesfalls. Er hatte diese Version seines Lebens nur nicht kommen sehen.
Davon abgesehen, dass er viermal die Woche arbeitete, lebte Linus einfach vor sich hin.
Beinahe jeden Nachmittag, wenn der Feierabend nahte, stellte er sich die gleichen belanglosen Fragen.
Sollte er den Abend drinnen oder draußen verbringen, alleine oder am Telefon, mit Bier oder Wein, bei Fernsehen oder Musik, mit bestellter oder tiefgekühlter Pizza? Und jeden Abend kam er trotz der möglichen Variationen zum gleichen Ergebnis: drinnen, alleine, Bier, Musik, gar keine Pizza.
Es waren solche Nächte, in denen er, vom gescheiterten Versuch der Abstinenz enttäuscht und vom Alkohol betrogen, seine Runden drehte.
Gedankenrunden, ein Gemüt auf Achterbahnfahrt, die Schienen geschmiert von lauem Pilsener.
Nächte, in denen er die Schönheit des Lebens erkannte, plötzlich Freude und Zuversicht empfand.
Oft lag er dann auf dem alten Parkettboden seines Zimmers vor seinem Bett, die Arme und Beine von sich gestreckt, neben ihm einige leer getrunkene Flaschen. Dazu ein melancholischer Song und das Wissen darum, dass alles möglich war.
Mit dem Schiff nach New York, in wenigen Wochen, das war möglich. Ein betagtes Segelboot kaufen, schon im nächsten Jahr, das war möglich. Eine rauschende Party feiern, mit allen Menschen, die er kannte, oder besser noch, die er mochte. Eine ziemlich kleine Runde würde das sein, aber es war möglich.
Er würde es tun, würde es tun, würde es tun. Er würde es tun, wenn alles andere erledigt war. In besonderen Momenten ahnte er die Tragik solchen Denkens.
In jedem Leben spult die Liste der Aufgaben wie der Abspann eines Films über den Bildschirm. In dem Moment, in dem am oberen Rand eine Zeile verschwindet, kommt am unteren Rand eine neue hinzu. Niemals wird alles erledigt sein.
Linus hatte begonnen, die Wochenenden zu mögen. Er genoss besonders die Samstage, an denen das Ligaspiel in Bremen stattfand. Die Atmosphäre war berauschend. Man konnte es fast spüren, wenn über vierzigtausend Menschen sich mit dem gleichen Ziel auf den Weg machten. Und man konnte es sehen, wenn man auf dem Deich der östlichen Vorstadt oder am Ende der Schlachte auf den weiten Stufen saß.
Das Spiel war seit einer knappen Stunde vorbei. Die ersten Schlachtenbummler kamen. Linus lehnte sich auf die Ellenbogen zurück und öffnete sich ein Dosenbier. Er mochte diese leichte Benommenheit in der Sonne. Das Bier verankerte ihn mit den Steinen, auf denen er saß.
Er sah die Leute vorbeiziehen, miteinander reden,
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