Ausgerockt - [Roman]
die meisten Leute standen.
Linus entschied sich für einen Platz an einer der Säulen. So konnte er sich anlehnen und die Bühne und den Raum gut überblicken.
Keiner schien von seiner Anwesenheit Kenntnis zu nehmen. Alle waren mit sich selbst oder den Darbietungen auf der Bühne beschäftigt. Einen Moment später starrten so ziemlich alle gebannt auf die Bühne.
Denn dort war soeben Sandra aufgetaucht.
Sandra war neunzehn, so ließ ein Teilnehmer der Jury verlauten. Und Sandra hatte ihre üppige Oberweite nur sporadisch mit einer Bluse verdeckt. Ihr Rock ließ sich wiederum nur bedingt als Rock bezeichnen. Manch einer würde ihn eher als Gürtel einordnen.
Die Musik? Schmutzig. Der Beat? Hart. Gesang? Fehlanzeige. Tanz? Nicht zu knapp. Eine Darbietung der Möglichkeiten zweier Schenkel, ein exzessiver Einsatz des Hinterteils, Figuren, die nach einer Tanzstange und fliegenden Geldscheinen verlangten.
Linus war peinlich berührt. Er suchte in der Menge nach Gleichgesinnten. Er wünschte sich den Austausch fragender Blicke von Menschen, die sich fremdschämten, so wie er. Vergeblich. Während des Auftritts dieser Sandra flimmerte unweigerlich der imaginäre Schriftzug Deutschland sucht den Pornostar vor seinen Augen entlang.
Die Jury bestand aus zwei Männern und einer Frau. Linus kannte die Männer von Werbeplakaten, die hier und da in der Stadt klebten. Sie waren Moderatoren eines privaten Radiosenders. Sie hatten eine sogenannte Morning-Show, die nicht gerade dem entsprach, was Linus als lustig und motivierend empfand.
Die Frau kannte er nicht. Vor ihr baumelte ein Schild am Tisch, worauf das Kanal 7-Logo prangte, darunter zwei Worte, die Linus aus der Entfernung nicht lesen konnte. Vermutlich der Name der Jurorin.
Sie sah aus, als würde sie die Vorstellung von Sandra, neunzehn, lieber gleich als später beenden. Die beiden Männer machten diesen Eindruck nicht.
Dann kam ein Junge namens Daniel, vierzehn Jahre alt. Er sang My Heart Will Go On von Celine Dion. Von Stimmbruch keine Spur. So kam er Celine Dion auf eine an einen Eunuchen erinnernde Art ziemlich nahe. Die Jury bestätigte ihm pure Gänsehautgarantie. Daumen hoch. Nächste Runde.
Jutta, einunddreißig, optisch und akustisch eine Sensation, fand Linus. Sensationell, so dachte er vergnügt, waren vor allem ihr unansehnlicher Teint und die zerstörerische Stimme. Wirklich ätzende Laute. Daumen runter. Keine Chance. Nicht mal als Nummer zur allgemeinen Belustigung. Dafür war sie wiederum nicht schräg genug.
Holger, zweiunddreißig. Linus ältester Kumpel. Ein begeisterungsfähiger Junge. Intelligent, witzig, im Ernstfall verlässlich, leicht gestört. Gleichwohl proletenhaft, düster, ätzend und unzurechnungsfähig. Ein begnadeter Schlagzeuger. Ein hoffnungsloser Fall.
Holger trat auf die Bühne, ohne Schlagzeug, mit einem seltsam schrägen Blick.
Linus wusste nicht, was er davon halten sollte.
Das hier war DSDM. Deutschland sucht den Megastar . Zwar war es nur eine unbedeutende, von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommene Vor-Vorrunde, offensichtlich waren nicht einmal Fernsehteams vor Ort, aber es war das strikt verhasste Sendeformat, und Holger stand ausgerechnet auf dessen Bühne.
Allzu knapp stellte die Jury ihn vor.
Linus musste daran denken, was Hannah einmal über Holger gesagt hatte, einige Wochen, bevor sie gestorben war.
Es war Sommer gewesen. Linus und Holger hatten sich gerade erst kennengelernt und mit Westerngitarren auf dem Dachboden gesessen, um ihre ersten gemeinsamen Stücke zu schreiben.
Abends brachte Linus seinen Freund zur Straße. Als er zur Haustür zurückkehrte, lehnte Hannah im Türrahmen, die Arme verschränkt, wie immer, wenn sie im Begriff war, Kritik zu üben. Ihr Lächeln, Linus erinnerte sich an ihr misstrauisches Lächeln.
»Mit deinem neuen Freund«, sagte sie, »stimmt etwas nicht. Er schmiert mir ständig Honig um den Bart.«
Tatsächlich war Holger Hannah gegenüber immer besonders freundlich gewesen. Manchmal hatte er es übertrieben, hatte sich aufgeführt wie ein Internatsschüler, war hilfsbereit bis hin zur Aufdringlichkeit, und das hatte Hannahs Mißtrauen geweckt. Sie wusste, dass Holger eigentlich ein anderer war, ein schwieriger Typ, Problemfall, jemand, der Linus auf dumme Gedanken bringen konnte. Tante Hannah hatte auch schnell begriffen, dass Holger sich im Hause Keller wohlfühlte und sich darüber im Klaren war, dass er nur dann wiederkommen durfte, wenn er sich zu benehmen
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