Ausgerockt - [Roman]
warf Konfetti, das sich mit dem Konfetti der anderen Gäste vermischte und so einen kurzen bunten Regen ergab.
Linus musste sich immer wieder klar machen, welch ein bedeutender Moment das für Brunssen war. Er musste sich zwingen, dem angemessen beizuwohnen, nicht bloß körperlich, sondern auch geistig. Es fiel ihm nicht leicht.
Auch als die Hochzeitsgesellschaft vom Leuchtturm zum Mittagessen ins Hotel wanderte, war er unachtsam. Er tat bloß so, als sei er bei der Sache, stellte Fragen an Brunssens Vater, konzentrierte sich aber nicht auf dessen Antworten. Wenn er selbst etwas gefragt wurde, gab er äußerst knapp Auskunft und fand sich dabei enorm uninteressant. Daher nahm er es niemandem übel, wenn er sich nach ein paar Floskeln gelangweilt von ihm abwandte.
Beim Mittagessen, dem Fototermin und der anschließenden Kaffeetafel änderte sich daran nichts.
Linus fühlte sich weder gut noch besonders schlecht. Ihm war, als befände er sich in einem mentalen und emotionalen Vakuum, einer Schleuse zwischen gestern und morgen.
Er lachte, wenn die anderen lachten, sprach nur, wenn er etwas gefragt wurde, spielte die meiste Zeit an der Manschette seines Bierglases herum, und sein Blick wanderte immer wieder sehnsüchtig zum Meer hinaus.
Die Meeresluft auf Wangerooge nötigte ihn, tiefer zu atmen, als er es in den letzten Jahren je getan hatte. Für einen Moment glaubte Linus, man könne sich den abgestandenen Muff eines Lebens einfach aus der Lunge pusten.
Er neigte dazu, Ereignisse, Lebensabschnitte und besonders die dazugehörigen Orte im Nachhinein in seiner Erinnerung zu romantisieren. Doch das Meer wallte und schäumte in keiner seiner Erinnerungen so schön wie in der Gegenwart.
Er war lange nicht an der Küste gewesen.
Die Wellen drängten vor, krallten sich in den Sand, zogen sich wieder zurück und hinterließen halbrunde glänzende Teppiche.
Er hatte eine Hand in der Tasche seines Jacketts, umklammerte darin sein Handy und überlegte, wem er diesen Moment per Kurznachricht mitteilen könnte.
Sein Daumen strich über das geschliffene Display, er zögerte. Linus fürchtete, dass der Versuch, diesen Moment zu einer Kurzmitteilung oder einem Handyfoto zu verarbeiten, ihn gleichzeitig zerstören würde. Möglicherweise war es schon immer so gewesen, und erst jetzt wurde es ihm bewusst.
Er verspürte den Drang, das Gerät ins Meer zu schleudern, doch der Impuls war nicht stark genug. Das Handy war längst ein Teil von ihm geworden.
Ein Teil von ihm.
Auch Musik war ein Teil von ihm.
Als er zehn Jahre alt war, hatte er im Zimmer seines Halbbruders Mark eine Musikkassette der Band A Flock of Seagulls gefunden.
Es war ein harter Winter, der von Mitte Dezember bis Anfang März nahezu jede Nacht neuen Schnee brachte. Linus war des Akkordeonunterrichts längst überdrüssig geworden, der Musik jedoch nicht. Er fixierte seit Wochen die Poster in Marks Zimmer. Fotografien, die neben den austauschbaren abgebildeten Stars immer diesen wunderbaren Gegenstand zeigten. Die Gitarre.
A Flock of Seagulls bestand aus vier Musikern. Gitarre, Bass, Keyboard, Schlagzeug. Mehr war nicht nötig. Linus musste bloß Gitarre lernen und drei weitere Musiker anheuern. Damit war die Idee geboren.
Eine Gitarre bedeutete nicht nur Spaß, sondern sie konnte all seine Probleme mit einem Schlag lösen. Linus hatte als Jugendlicher einen großen Bedarf an Geltung, den die Gitarre zu decken versprach. Für ihn war es auch kein Kinderkram, nein, es ging um etwas höchst Erwachsenes. Es ging um einen Beruf. Um den Glauben an eine Berufung.
Ein Glaube, der seit diesem Tag wie ein Ballon über ihm schwebte.
Doch Glaube allein schafft nicht die Realität. Der Ballon war nicht greifbar. Ganz im Gegenteil. Unmerklich setzte er sich in Bewegung und Linus musste ihm folgen, einen langen Weg folgen.
Und er tat es, folgte dem Ballon, als die Kindertapeten aus seinem Zimmer entfernt wurden. Folgte ihm, als er Holger kennenlernte, folgte ihm, als Mark in die USA auswanderte, folgte ihm, als Tante Hannah starb und er zu rauchen begann, folgte ihm, während er seine erste Wohnung bezog und eine Ausbildung machte und während er arbeiten ging und das Rauchen wieder aufgab. Gab schließlich auch das Arbeiten auf, um dem Ballon besser folgen zu können, schaute all die Jahre nicht nach links und nicht nach rechts, nicht nach unten. Immer nur nach oben, denn da schwebte er, der Ballon. Und er ging weiter, ihm hinterher, ohne zu merken, dass der
Weitere Kostenlose Bücher