Ausgesaugt
Baumreihe am Ende des Riverside Park deutlich vor den Lichtern der Stadt ab. Die George Washington Bridge im Norden ist ebenfalls hell erleuchtet.
Es ist alles so beschissen pittoresk.
Ein Signal ertönt im Tunnel und jagt mir eine Schockwelle über den Rücken. Ich springe vom Gleis und lasse den Zug vorbei. Ich könnte mich ja mit ihm anlegen, aber ich will meine Kräfte schonen.
Scheinwerfer erleuchten die Baumkronen am Rand des Riverside Drive. Ich krieche die Anhöhe hinauf. Dort steht ein schwarzer Riviera Baujahr 1978. Dallas sitzt hinterm Steuer und Chubby belegt den Großteil der sofagroßen Rückbank aus schwarzem Velours.
Er kurbelt das Fenster herunter.
– Alles klar, Joe?
Ich lehne mich gegen den Wagen.
– Wollte mich nur noch von jemandem verabschieden.
– Von wem?
– Niemand, den du kennst.
Er breitet die Handflächen aus.
– Ich kenne so ziemlich jeden.
– Den nicht.
– Woher willst du das wissen?
– Weil du noch am Leben bist.
– So einer ist das?
Ich beobachte den Verkehr unter uns.
– Über ihn zu reden, erregt seine Aufmerksamkeit, Chubby. Dann könntest du ihn ganz schnell kennenlernen.
Er nickt.
– Themenwechsel.
Ich stoße mich vom Wagen ab.
– Weißt du, wo ich Percy finden kann?
Er schüttelt den Kopf.
– Wie gesagt, Percy ist abgetaucht. Fang bei Digga an.
– Klar, mitten in die Höhle des Löwen. Wo kann ich ihn finden?
Er spitzt die Lippen.
– Er befehligt die Belagerung.
Ich blicke zum Eingang des Tunnels hinüber.
– Die Belagerung.
– Brauchst du nähere Informationen?
Ich schaue vom Tunnel auf und durch die Bäume nach Osten.
– Nein, ich glaube, ich weiß Bescheid.
– Du weißt also, von welchem Ort ich spreche?
Die leere Höhle, in der mal mein linkes Auge war, fängt an zu jucken. Ich würde mich gerne kratzen, aber ohne einen Eispickel kann ich die betreffende Stelle nicht erreichen.
– Ja. Ich war schon mal da.
– Ach ja. Auf einem deiner früheren Ausflüge nach Uptown.
Das Jucken wird schlimmer.
Chubby streicht über seinen Ziegenbart.
– Na ja, halt dich am besten von dort fern. Wie man hört, leistet die Koalition einen nicht unerheblichen Widerstand. Digga hält sich irgendwo in der Nähe des Parks auf.
Er kramt im Handschuhfach, zieht ein Handy heraus und reicht es mir.
– Meine Nummer ist eingespeichert.
Ich nehme das Handy.
– An deiner Stelle würde ich mir keine großen Hoffnungen machen.
Ich halte Ausschau nach einer Lücke im Verkehr.
Chubby streckt den Kopf zum Autofenster heraus.
– Du musst sie finden, Joe. Bitte, finde mein kleines Mädchen.
Endlich beruhigt sich der Verkehr, und ich kann die Straße überqueren.
Ich sage kein Wort zum Abschied. Besser, man macht keine Versprechungen, die man nicht einlösen kann; und vermutlich hat er bereits so eine Ahnung, wie die Sache ausgehen wird. Sonst hätte er nicht ausgerechnet mich um Hilfe gebeten.
In der Mitte des Parks stoße ich auf das General Grant National Memorial. Da ich aus dem Wäldchen dahinter komme, muss die Columbia gleich nördlich von mir liegen. Ich spähe den Broadway hinunter in Richtung Campus, bleibe aber in sicherer Entfernung.
Eine Belagerung.
Technisch gesehen gehört alles nördlich der 110th zum Hood. Von einem Ufer zum anderen haben Digga und seine Leute das Sagen. Doch die Koalition tut sich schwer, auf ihr angestammtes Territorium zu verzichten; und was ihnen hier oben auf dem Hügel gehört, ist ziemlich exklusiv: das Jagdrecht auf dem Campus, ein paar ziemlich alte und teure Wohnviertel und eine Ausbildungsstätte für ihre Elitetruppen.
Ganz offensichtlich befinde ich mich im Moment abseits vom Geschehen. Woher ich das weiß? Weil ich sonst schon tot wäre.
Trotzdem will ich lieber nichts riskieren.
Ich verlasse die Anhöhe auf der 123rd in Richtung Osten, und schon fallen weitere dieser unguten Erinnerungen über mich her. Die Vergangenheit hat die Tendenz, einen heimzusuchen. Hier war ich schon mal.
Eine alte Stadt, bewohnt von den Gespenstern der Vergangenheit.
Zu meiner Rechten führt eine steile Anhöhe zum Morningside Park hinauf. Er ist genauso verlassen wie die Straße vor mir. Der Wind rüttelt an den kahlen Ästen. Der Griff der Pistole in meinem Rücken fühlt sich kalt an.
Eigentlich sollten hier Leute unterwegs sein.
Es ist früher Abend, und normalerweise steigen hier massenhaft Studenten den gewundenen Pfad zur Anhöhe hinauf. Üblicherweise liegen ein paar Säufer unten auf den Bänken,
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