Ausgesaugt
Tunnelwände zu spüren, weil sie einem etwas über das Leben auf der Oberfläche erzählen können.
Was zum Teufel geht da oben vor? Wer hat ins Gras gebissen? Wer hat überlebt? Wie sind die Karten jetzt gemischt, und wer ist als Nächstes am Zug? Seid ihr schon verwirrt? Tja, das ist eben so, wenn man mitten in einer Geschichte einsteigt.
Was gibt’s noch zu sagen? Dass ich so bin, wie ich bin, hat weder mit Gott noch mit dem Teufel zu tun. Ich bin einfach der, der ich bin. Ein Scheißkerl. Ein Scheißkerl, der sich mit dem sogenannten Vyrus infiziert hat, woraufhin er sich in einen sogenannten Vampyr verwandelt hat. Was vielen Leuten, denen ich im Laufe der Jahre begegnet bin, nicht gut bekommen ist. Nicht weil ich mich ohne die Infektion erst gar nicht mit ihnen angelegt hätte, sondern weil die Infektion es so verdammt schwermacht, mich zur Strecke zu bringen. Über das Vyrus gibt es viele Meinungen. Manche werden da richtig esoterisch, andere halten es einfach für eine ansteckende Krankheit, die uns andersartig und gefährlich macht. Wieder andere sagen, dass wir diese Krankheit nicht länger verbergen dürfen, dass wir uns solidarisieren und an die Öffentlichkeit treten müssen. Und einige gehen sogar so weit, von einem möglichen Heilmittel zu sprechen. Die meisten jedoch haben überhaupt keine Meinung und warten einfach mal ab, was passiert, um dann bei passender Gelegenheit ins richtige Lager zu wechseln.
Und alle diese verschiedenen Gruppierungen führen Krieg gegeneinander.
Was meine Schuld ist.
Hätte ich mein Maul gehalten, wäre das alles nicht passiert. Aber da ist ja noch die Frau. Ich wollte sie wiedersehen, und das war nur möglich, indem ich für eine gewisse Ablenkung sorgte. Da dachte ich eben, Krieg wäre ein angemessenes Ablenkungsmanöver.
Im Nachhinein betrachtet war das möglicherweise ein Fehler. Nicht, den Krieg anzufangen – sondern auf die Frau zu hören. Sie hat mir gesagt, dass ich sie zurücklassen soll. Ich hätte nicht auf sie hören sollen. Ich hätte sie einfach am Kragen packen und mitschleifen sollen. Dann wären wir schon lange ganz woanders.
Darüber denke ich oft nach. Im Dunkeln. Es gibt ja nicht viel, worüber ich sonst nachdenken könnte. Nur über das, was ich hätte tun sollen. Welche Leben ich hätte retten, welche Hälse ich hätte durchschneiden sollen.
Selbst Typen wie ich kriegen ab und zu mal eine Verschnaufpause. Und dann denkt man über die Dinge nach, die man bereut.
Dafür hatte ich vorher nie Zeit. Aber jetzt leisten mir solche Gedanken ständig Gesellschaft.
Und dabei überkommt einen die blanke Mordlust.
Chubby Freeze findet mich zusammengekauert in einem Bretterverschlag, den ich von Q-line-Dave übernommen hatte, nachdem er unter die Räder des Hudson Valley Express geraten war.
Chubby macht ordentlich Lärm, als er sich dem Verschlag nähert. Das ist auch gut für ihn, weil mich der Lärm davon abhält, ihm das Amputationsmesser von hinten um die Gurgel zu legen und sie einfach durchzuschneiden. Ich könnte ihm jetzt trotzdem die Klinge an die Kehle halten und ihn fragen, was zum Henker er hier unten verloren hat. Davon hält mich allerdings die Pistole ab, die sein Lover Dallas auf mich gerichtet hat.
Ist wahrscheinlich auch besser so. Chubby und ich sind die meiste Zeit gut miteinander ausgekommen, und ich würde ihn nur ungern ohne Grund umlegen. Obwohl allein die Tatsache, dass er mich hier aufgespürt hat, ein guter Grund dafür wäre. Zunächst muss ich aber herausfinden, ob noch mehr Leute wissen, dass ich hier unten bin.
Wenn es wieder ans Töten geht, dann sollte ich mir vorher eine möglichst vollständige Liste machen.
– Du siehst nicht gut aus, Joe.
Manche Menschen sind ja der Meinung, dass das Offensichtliche unbedingt auch ausgesprochen werden muss. Ich dagegen glaube, dass jeder, der in der Kanalisation hausen muss, zwangsläufig ziemlich beschissen aussieht. Da sollte man sich einen entsprechenden Kommentar verkneifen. Nicht dass Chubby damit meine Gefühle verletzt hätte oder so, aber schließlich ist unser aller Lebenszeit kostbar. Warum sie darauf verschwenden, das Selbstverständliche zu verkünden?
Chubby kneift die Augen zusammen und spitzt die Lippen.
– Nein, bei guter Gesundheit scheinst du mir nicht zu sein.
Ich deute auf die dreckbespritzten Hosenaufschläge seines Dreitausend-Dollar-Maßanzugs.
– Du bist auch nicht mehr ganz taufrisch, Chubby.
Er befingert die Falten, die der Anzugstoff
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