Ausgesetzt
Mann mit einem Emphysem im Endstadium angetroffen. Viel konnte er nicht sagen, aber er bestätigte, dass er seinen Sekretär ein paar Tage vor seinem Tod zuletzt gesehen hatte. Er bestritt, dass er ihn entlassen habe.
Alberni, dieser Korinthenkacker, hatte angemerkt, dass der Alte von einem Pfleger betreut werde und dass auch ein invalider Sohn zum Haushalt gehöre.
Die Kriminalbeamten waren zu dem Schluss gekommen, bis zum endgültigen Bericht des Pathologen sei davon auszugehen, dass Chester Simmons, zweiundfünfzig, Privatsekretär, Selbstmord durch Erhängen begangen habe und dass er, zu einem späteren Zeitpunkt, von einer oder mehreren unbekannten Personen seiner Kleider beraubt worden sei. Kein Verdacht auf Fremdeinwirkung. Fall abgeschlossen.
Einen Scheißdreck abgeschlossen, sagte Kiss zu sich selbst. Selten war er so glücklich gewesen.
Vor einundzwanzig Jahren hatte Jake Nuremborski gerade mal ein paar hundert Meter von der Stelle entfernt gewohnt, an der Alex Johnson ermordet worden war. Zwei Jahre später hatte er knapp oberhalb der Stelle gewohnt, an der ein jamaikanischer Junge etwa im selben Alter wie Alex auf dieselbe Weise überfallen worden war. Drei Jahre später waren sein Schwiegersohn, den er hasste, und seine Tochter, die ihn verraten hatte, verschwunden. Und zu guter Letzt hatte er diesem Walker Devereaux einen Arsch voll Geld angeboten, damit er vergaß, was immer er wusste, und sich vom Acker machte.
Kiss lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Seine Gedanken kehrten zu Devereaux und seiner verkrüppelten Kleinen zurück. Waren sie wirklich in Gefahr?
Während Walkers Schilderungen hatte Kiss überlegt. Der Privatsekretär – der, verdammt noch mal, sogar die Katze des Jungen umgebracht hatte – war tot.
Walker wusste das nicht, Kiss schon. Von dort drohte keine Gefahr mehr.
Mehr Kopfzerbrechen bereitete der Mann im Sommerhaus, der Walker nach dessen Angaben bis nach Jamaika verfolgt hatte. Es war durchaus möglich, dass Jake Nuremborski jemand anderes angeheuert hatte. Doch so wie Walker die Geschichte erzählt hatte, war er selbst es gewesen, der das Gerangel im Wald angefangen hatte. Er hatte sich auf den Typen gestürzt und war dann mit ihm den Hang hinuntergekugelt, nicht umgekehrt.
Und außerdem schnüffelten Walker und seine Freundin schon monatelang in Nuremborskis Angelegenheiten herum. Wenn jemand sie hätte erledigen sollen, dann wären sie bereits erledigt.
Offenbar wusste der Alte nicht, was er mit den beiden anfangen sollte. Er hatte versucht, sie einzuschüchtern, er hatte versucht, sie zu bestechen. Was würde er als nächstes tun?
Nachdem Walker und Krista gegangen waren, hatte Thomas Lee gemeint, dass es vielleicht nicht schlecht wäre, den beiden jemanden hinterherzuschicken. Zumindest solange, bis die Überwachung des Hauses in Forest Hill in die Wege geleitet war.
Ja, dachte Kiss, man sollte die beiden beschatten. Die sollen mir bloß nicht in die Quere kommen. Er hatte keine Ahnung, wo sie wohnten, und auch nicht, ob in getrennten Wohnungen oder zusammen. Er hoffte, dass Lee das alles wusste.
Kiss griff zum Telefon und fragte Lee nach der Überwachung.
»Steht um Mitternacht bereit.«
»Wann ist Alberni wieder da?«
»Ist schon auf dem Weg.«
»Er soll sich um den Jungen und seine Freundin kümmern. Haben Sie die Adresse?«
»Ja, Sergeant. Zwei Adressen.«
»Okay. Dann lassen Sie Doppelschicht machen. Teilen Sie Tony Capri ein. Er soll heute abend mit Alberni gehen. Die sollen selber ausmachen, wer sich um wen kümmert. Um zehn geht’s los. Bis morgen vormittag um zehn. Dann erwarte ich Ihren Bericht.«
»Wo finde ich Sie, Sergeant?«
»Wo Sie mich immer finden. Hier.«
Kiss legte auf. Bewegung kam in die Sache. Die Jagd war eröffnet. Ein gutes Gefühl.
Wie zur Antwort, so als dürfe er sich nicht zu gut fühlen, begann sich etwas in seinem Inneren zu regen. Er stand auf, ging vorsichtig im Dunkeln hinüber zu seinem Sofa und setzte sich. Er starrte auf seinen Schreibtisch, auf das Licht, das über den Fotos von Alex leuchtete.
Er spürte es wieder – zwischen den Hüftknochen, zusammengekauert in seinem Becken, drückte es gegen die Nervenenden. Das war neu. Üblicherweise kam es nachts, wenn er schlief.
Er versuchte, sich auf Johnny Johnson zu konzentrieren. Er hatte seinen Sohn verloren und seine Frau. Auf die allerschlimmste Weise hatte er alles verloren. An irgendein Monster.
An etwas Unaussprechliches, Unfassbares.
Wieder fühlte
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