Ausgesetzt
entschieden hatten, was sie wegen Jake Nuremborski unternehmen wollten, sollten sie wenigstens alles für ihre Sicherheit tun.
Als sie vor Walkers Haus ankamen, bat Krista Nick zu warten, bis Walker hinaufgegangen war und sich in der Wohnung umgesehen hatte. Er kam wieder herunter und berichtete ihr, dass alles so aussah, wie er es verlassen hatte. Dann küsste er sie, verabschiedete sich von Nick und ging zurück durch die alte Holztür neben dem Pfandleiher.
Krista sah ihm nach, wie er ins Haus ging, und versuchte, sich keine Sorgen zu machen. Sie hatte soviel zu tun. Und es gab jemanden in ihrem Leben, der sie wirklich brauchte, jemanden, um den sie sich kümmern konnte. Und jemanden, der ihr etwas bedeutete. Alles würde gut werden. Sie zwang sich, das zu glauben. Bestimmt würde alles gut werden.
Detective Sergeant Kiss war gut drauf. Ja, er war aufgekratzt, euphorisch, man könnte sogar sagen: high. Aber nach außen war ihm nichts anzumerken. Nach außen hin sah er aus wie immer.
Er saß im Dunklen an seinem Schreibtisch – denn so hatte er es gern, die Jalousie heruntergelassen, nur die Schreibtischlampe an – und betrachtete ein großformatiges, glänzendes Schwarzweißfoto. Er legte es weg und nahm ein anderes zur Hand. Es gab einen ganzen Stapel davon, einige in Schwarzweiß, andere in grellen Farben, alle von der Polizei der Provinz Ontario vor einundzwanzig Jahren aufgenommen: am 12. August 1974.
Ein zehnjähriger Junge namens Alex Johnson hing an einem Baum. Seine Gedärme hingen aus einem Schlitz im Bauch bis fast auf den Boden. Sogar in Schwarzweiß hatten sie einen Blaustich. Kiss konnte sie beinahe riechen, diesen unverkennbaren, übelkeiterregenden süßlichen Geruch von Eingeweiden.
Es gab Fotos von dem kleinen Jungen, wie er auf einer Gummimatte auf dem Boden lag. Es gab Bilder von ihm, wie er auf einem Tisch aus rostfreiem Stahl in der Gerichtspathologie lag. Und überall hatte die Kamera sich an ein und demselben Punkt festgesaugt: der klaffenden Wunde und den traurigen kleinen Darmschlingen.
Das war der ungelöste Fall, der Kiss am meisten am Herzen lag. Diesen Fall wollte er mehr als jeden anderen aufklären.
Dabei war es ursprünglich nicht einmal sein Fall gewesen. Doch als er auch nach Jahren noch nicht gelöst war, hatte Kiss die Polizei in Ontario um eine Kopie der Akte gebeten. Man hatte ihm alles geschickt, als sei man froh gewesen, es loszuwerden, als habe man diese Bilder lang genug vor Augen gehabt.
Johnny Johnson, der Vater des Jungen, war auch Polizist in Toronto gewesen. Er und Kiss waren eng befreundet gewesen. Der Mord hatte Johnnys Leben zerstört. Der Sohn abgeschlachtet. Die Frau hatte vier Jahre später Hand an sich gelegt – eine Handvoll Schlaftabletten, um genau zu sein. Johnny hatte versucht, stark zu sein, weiterzuarbeiten, bis er eines Nachmittags, allein in seinem Büro, zu zittern begonnen hatte. Er hatte zu zittern begonnen und konnte nicht mehr aufhören.
Kiss war es gewesen, der ihn zu seinem Arzt gefahren hatte.
Und Kiss war es auch gewesen, der ihn, noch am selben Tag, ins Krankenhaus gebracht hatte.
Johnny Johnson kam erst sechs Monate später wieder aus dem Krankenhaus. Doch zur Arbeit kam er nie wieder.
Das war jetzt fünfzehn Jahre her, und Kiss besuchte ihn nach wie vor. Sommers wie winters saß er bei ein paar Bieren mit ihm auf der hinteren Veranda, weil die nicht so leer schien wie das Haus. Und dann, der Allmächtige sei gepriesen, kommt dieser junge Mann, dieser Walker Devereaux hereingeschneit und bringt frohe Botschaft. Kiss konnte es kaum glauben.
Jake Nuremborski. Nach Angaben des jungen Mannes war der jetzt um die siebzig. Wegen des Selbstmörders unter der Brücke hatte der Name bei Kiss eine Saite zum Schwingen gebracht.
Alles stand in der Akte, die der Kriminalbeamte ihm gerade auf den Tisch gelegt hatte. Kiss wandte sich von den Fotos ab und dieser Akte zu.
Eine Frau hatte die Leiche als die ihres Mannes identifiziert. Er war bereits drei Tage abgängig, als sie einen Brief von ihm erhielt:
Liebe Ellen,
dreißig Jahre lang habe ich getan, was Nuremborski von mir verlangt hat. Heute habe ich keine Selbstachtung mehr und auch keinen Job. Müdigkeit und Scham sind alles, was ich noch in mir fühle. Vor allem Scham. Verzeih mir. Ich liebe dich.
Chester
Aus der Akte ging hervor, dass Lee und Amos Alberni den Arbeitgeber des Mannes aufgesucht hatten, einen gewissen Jacob Nuremborski.
Sie hatten einen schwerkranken
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