Ausgesetzt
Krista.
»An die Tür klopfen und fragen, ob sie eine Lenore Nuremborski kennen, die um 1974 herum St. Bridget besucht hat.«
»Und wenn sie ja sagen?«
»Sage ich, dass ich ihr Sohn bin.«
»Irgend jemand weiß Bescheid über das, was du tust. Wenn die deiner Mutter etwas Schreckliches angetan haben, warum sollten sie nicht auch dir etwas Schreckliches antun? Du kannst nicht einfach so rumgehen und an Türen klopfen.«
»Es geht um meine Mutter!«, schrie Walker.
Krista fuhr zusammen. Sie sagte nichts mehr. Sie sah Walker nur unverwandt an, als er das Telefonbuch beiseite schob. Sie hatten noch drei andere Fotos von Lenore Nuremborski gefunden. Und gleichgültig, ob es ein Klassenfoto oder ein inoffizieller Schnappschuss war, auf keinem davon sah sie in die Kamera. Sie hatte sich immer ein wenig abgewandt, sah immer weg.
Krista sah, dass Walker den stark ausgeprägten Mund seiner Mutter hatte. Aber sein Haar erschien ihr dunkler als das seiner Mutter, pechschwarz und glänzend; es fiel ihm in die Stirn, als er sich wieder über die Fotos im Jahrbuch beugte.
»Ihre Familie könnte weggezogen sein, weißt du?«, sagte Krista schließlich.
»Weiß ich.«
»Und höchstwahrscheinlich werden sie dir nichts sagen, selbst wenn sie was wissen. Glaubst du nicht?«
Walker sah zu ihr hoch. »Ich hoffe, doch.«
Eine Viertelstunde später, als seine Nachtschicht begann, fuhr Walker mit Nummer Neunzehn los, um alle drei Nuremborskis zu besuchen.
Die Adresse an der Eastern Avenue entpuppte sich als Holzhaus, eingeklemmt zwischen einem Autohof und einem verlassenen Eisenbahnwaggon auf rostigen Gleisen, die im Unkraut verschwanden. Sämtliche Wände waren mit Graffiti vollgesprüht. Ein traurig blickender Dobermann, an den Türrahmen gekettet und in sein langweiliges Schicksal ergeben, lag auf der kleinen gemauerten Veranda.
Als Walker am Straßenrand stehen blieb, konnte er einen großen Mann hinter dem Haus sehen, der sich an einem Motorrad zu schaffen machte. Walker stieg aus. Der Dobermann ging in Habachtstellung, mit gesträubtem Fell und lautem Gebell, offensichtlich froh, etwas zu tun zu haben. Der Mann brüllte ihm zu, er solle die Schnauze halten, erreichte damit aber überhaupt nichts.
Walker schlenderte auf den Mann zu und fragte ihn, ob er G. Nuremborski sei. Der Blick des Mannes schweifte in Richtung Straße und Walkers Taxi, dann zurück zu Walker.
»Wer will das wissen?«
»Kein Grund zur Panik. Meine Mutter heißt Nuremborski, das ist alles. Ich möchte mehr über sie herausfinden. Ihr Vorname war Lenore. Sie ist auf eine Mädchenschule gegangen, in Forest Hill, St. Bridget. Ungefähr 1974.«
»Tatsache?«, sagte der Mann. »Sind das die mit diesen winzigen Röckchen? Da müsste es ein Gesetz gegen geben.« Er fasste sich an die Hoden und rüttelte an ihnen.
»Ich glaube, das gibt es«, gab Walker zurück.
Der Mann grinste. »Kenn keine Lenore.«
Walker nickte. Er warf noch einmal einen Blick auf das Haus. Seine Mutter konnte ohne weiteres irgendwo da drin angebunden sein. Er dankte dem Mann, ging zurück zu seinem verbeulten Taxi und fuhr davon.
Sechzehn Jahre. Was auch immer geschehen war, es war vor sechzehn Jahren geschehen. Woher dann diese wachsende Panik, dieses Gefühl, dass er sie, wenn er jetzt nur schnell genug fuhr, wenn er es jetzt nur schlau genug anstellte, noch retten konnte?
Seine Mutter war ein Kind, das sich in einem Schwimmreifen treiben ließ, sie war vierzehn, groß und hübsch, in einem grünen Blazer und Faltenrock, sie war eine Frau, die flüsterte.
Seine Mutter war ein Gespenst.
Walker kam gut voran und bog zwanzig Minuten später in eine Einfahrt an der Bayview Avenue, der zweiten Adresse, die er unter Nuremborski gefunden hatte. Jetzt war er gar nicht mehr so weit von Forest Hill entfernt. Er fuhr an der Seite eines teuer aussehenden, relativ neuen Hauses mit versetzten Geschossen vorbei und blieb vor einer Dreifachgarage stehen. Im Garten hinter dem Haus bemerkte er ein Mädchen im Teenageralter. Sie spielte mit einem Hund, einem jungen, goldgelben Labrador. Das Riesenbaby tollte um sie herum. Das Mädchen war groß, schlank und hatte dunkles Haar.
Walker stieg aus. Offensichtlich hatte ihn das Mädchen nicht gehört. Sie warf einen Ball von einem Ende des Gartens zum anderen, und der Hund raste ihm nach, mitten durch einen Blumengarten.
Walker trat an den hüfthohen Zaun.
»Hi«, rief er.
Das Mädchen drehte sich zu ihm um. Beinahe hatte er erwartet, seine
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