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Ausgesetzt

Ausgesetzt

Titel: Ausgesetzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James W. Nichol
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Mutter zu sehen, doch das Mädchen hatte eine blasse Haut und ein rundes Gesicht. Sie trug Jeans und einen weiten Hockeypullover.
    »Hi«, sagte sie, als sie das Taxi sah, und kam an den Zaun. »Sie sind hier bestimmt falsch, es ist keiner zu Hause.«
    Walker sah, wie sich ihre Züge leicht anspannten, als ihr klar wurde, dass sie das Falsche gesagt hatte.
    Er bemühte sich, harmlos auszuschauen. Er lächelte sie an und sagte: »Ich will niemanden abholen. Ich versuche, meine Mutter zu finden, so blöd das auch klingt.«
    Der Gesichtsausdruck seines Gegenübers änderte sich, Interesse blitzte auf.
    »Was meinen Sie damit?«
    »Hier wohnt doch Carl Nuremborski, oder?«
    »Mein Vater«, antwortete sie. Nun betrachtete sie ihn genauer, so als ob sie sich auf einen Schock vorbereiten würde. Als ob er gleich sagen würde, stell dir mal vor, ich bin dein Bruder.
    »Ich wurde als Kind von meinen Eltern getrennt. Ich weiß, dass meine Mutter Lenore Nuremborski hieß, und ich weiß, dass sie vor zwanzig Jahren auf St. Bridget zur Schule ging. Aber das ist auch alles. Jetzt versuche ich, sie ausfindig zu machen.«
    »Wirklich?« fragte sie. »Das klingt irgendwie komisch. Nicht komisch, aber – Sie wissen schon.«
    »Schon klar«, sagte Walker. »Und deshalb wollte ich wissen, ob dein Vater vielleicht weiß, ob …«
    »Er weiß gar nichts«, unterbrach sie ihn. »Zumindest darüber. Ich musste meine Großmutter besuchen und meine Tante in Victoria anrufen, als wir in der Schule diese Ahnentafel machen mussten. Da war ich so zehn. Er wusste nicht mal, wie seine Großväter mit Vornamen hießen oder wo sie her waren, oder solche Sachen.«
    »Du hast eine Ahnentafel gezeichnet?«
    »Mhm.«
    »Erinnerst du dich, ob es da eine Lenore gab?«
    »Ich glaube nicht, dass eine dabei war. Tut mir leid.«
    »Schon in Ordnung.«
    »Niemand in unserer Familie ist jemals auf St. Bridget gegangen, da bin ich mir ziemlich sicher. Ich kenne sie aber vom Hörensagen.«
    »Du hast diese Tafel nicht zufällig noch irgendwo?«, fragte Walker. »Nicht, dass ich deinem Erinnerungsvermögen nicht trauen würde, aber …«
    »Doch. Meine Mutter hebt alles auf. Wollen Sie sie sehen?«
    »Gern, danke. Ich warte hier.«
    »O. K.«, sagte das Mädchen, und ihre blassgrünen Augen funkelten. Sie drehte sich um, eilte über die Terrasse, schob eine Glastür auf und verschwand im Haus.
    Zum Zeitvertreib versuchte Walker, den Hund dazu zu bringen, den speicheltriefenden Ball fallen zu lassen, den er jetzt fest im Maul hatte. Das schlaksige Tier sauste im Kreis umher und schüttelte wild den Kopf. Walker beugte sich über den Zaun und haschte nach dem Ball, aber der Hund wich ihm aus. Nie im Leben würde der sich den Ball abnehmen lassen.
    Das Mädchen kam wieder heraus, in der Hand ein Heft mit knallblauem Deckel. Sie kam durch das Tor und gab Walker das Heft. Auf dem Deckel stand sauber in Blockbuchstaben: »Angela Nuremborskis Stammbaum«.
    »Ich war erst zehn«, sagte sie zu ihrer Verteidigung.
    Walker grinste und blätterte das Heft im schwindenden Licht durch. Sie hatte recht gehabt. Es gab keine Lenore Nuremborski. Er gab ihr das Heft zurück.
    Sie stand neben ihm und blätterte selbst in ihrem Heft. »Mein Zweig der Familie kommt aus Russland«, sagte sie, »aus der Ukraine. Da gab’s irgendeine religiöse Verfolgung oder so was. Ich habe dazu was aufgeschrieben. Deshalb sind sie ausgewandert. Zuerst sind sie nach Saskatchewan gegangen, weil es sie an ihre Heimat erinnerte.«
    Sie hatte ihren Kopf jetzt über das Heft gebeugt. Walker sah ihren weißen, schlanken Nacken.
    Nun vertraute sie ihm. Nun war sie verletzlich. Er dachte an Lenore.
    »Danke für alles«, sagte er.
    Auf seinem Weg durch Forest Hill glitt Taxi Nummer Neunzehn unter einem langen Blätterbaldachin dahin. Als es vor einem gewaltigen zweistöckigen Haus aus braunen Ziegeln stehen blieb, gingen wie auf ein Stichwort die Straßenlampen an.
    Das Haus war etwas weiter von der Straße zurückgesetzt als die Nachbarhäuser und stand vielleicht auch schon länger da als die anderen. Es war ein trostloses, flachbrüstiges Gebäude. Drei Fensterreihen konnte er ausmachen, zwölf Fenster insgesamt. Keines davon beleuchtet.
    Walker stieg aus und ging den leicht ansteigenden Rasen hinauf. Das Gras war schon eine Weile nicht gemäht worden, und auf einer Seite des Anwesens stützte sich ein windschiefer, hoher Bretterzaun auf verwilderte Koniferen und Sträucher.
    Walker stieg die

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