Ausgeträllert (German Edition)
BILD-Zeitung damit hervortat, täglich grausigere Beschreibungen über den Zustand der Leiche abzuliefern, inklusive einer Zeichnung über eine halbe Seite. Die Spekulationen über Günni Heibuchs Verschwinden und die Frage, wer der Tote sein könnte, schossen ins Kraut. In den Artikeln wurde ein nicht namentlich genannter Augenzeuge zitiert, der den Zustand des Opfers en detail beschrieben haben soll. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals zu der Sache von der Presse befragt worden zu sein. Es drängte sich die Frage auf, ob die Redakteure der BILD-Zeitung am Ende sogar selbst neben dem Grill gesessen haben könnten. Getreu dem Motto: ›BILD sprach zuerst mit der Leiche‹.
Den ersten Vormittag meiner cateringfreien Zeit hatte ich in Bertis Kiosk verbracht. Sie hatte mir einen Zeitungsausschnitt unter die Nase gehalten. Ein Foto, auf dem Dennis Heibuch seine Hand schützend vors Gesicht hält, während er in den Transporter einsteigt. Im Anschnitt war Winnie in seinem schwarzen Anzug zu sehen. Darunter stand:
Familie geschockt – wie wird es für sie weitergehen? – Bürger in Angst vor abscheulichem Verbrechen. Sonderkommission wurde eingerichtet
.
»Wie heißt die SoKo denn?«, fragte ich Oma Berti.
»Woher soll ich dat wissen? Hasse schon mit deiner Chefin telefoniert?«
Ich steckte meine Nase noch tiefer in die Zeitung - ich wusste eh nicht, was ich hätte sagen sollen.
»Wie man sein Mitgefühl ausdrückt, steht nich inne Zeitung, Maggie«, sagte Berti und hielt mir eine Grußkarte unter die Nase. Vorne war ein hinreichend neutrales Blumenbild von Macke aufgedruckt. Berti sagte in einem Ton, der keine Widerrede duldete: »Schreib wat Nettes. Dat gehört sich so.«
Ich nahm die Karte, schrieb meinen Namen hinein und steckte sie in den bereits frankierten Umschlag.
»Du has ja gar nix geschrieben«, stellte Berti fest, bevor ich den Umschlag zukleben konnte.
»Ja, was soll ich denn schreiben? Alles wird gut? Oder was?«
»Mit herzlichem Mitgefühl. Oder: Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie in dieser schweren Zeit Kraft und Stärke ... Wenn Sie Hilfe brauchen, rufen Sie mich bitte an ... Und setz’ meine Nummer drunter. Is besser, die reden mit mir als mit Wilma. Wenn die’n patzigen Tach hat ... Und vergiss deine neue Adresse nich’.«
Also nahm ich die Karte wieder aus dem Unschlag und schrieb, wie mir befohlen.
»Briefkasten finds’te aber alleine, oder?«, sagte Berti.
»Ja«, sagte ich. »Danke für die Karte.«
»Aber spätestens morgen solltes’se da anrufen. Die brauchen bestimmt Hilfe. Denk ma an deine Chefin, die Petra. Die muss doch den ganzen Laden am Laufen halten. Nur vom Dumm-Rumstehen geht gar nix.«
Berti hatte mal wieder recht, aber ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass bei Heibuchs überhaupt gearbeitet wurde. Bestimmt hatte Petra bis auf Weiteres alle Termine abgesagt, zumindest so lange, bis feststand, wer die Leiche im Ochsenzelt war. Und was wäre, wenn der Ermordete nicht Günter Heibuch war und er trotzdem nie wieder auftauchte? Egal, welche Ergebnisse die Rechtsmedizin in den nächsten Tagen oder Wochen liefern würde – ein Schock wäre es allemal. Wie sollten die Heibuchs und ihre Mitarbeiter mit verheulten Gesichtern die Partys fremder Leute ausrichten? Geschäft hin oder her – ich stellte mir sogar vor, dass die Kunden von sich aus ihre Aufträge stornierten, weil man ja bei derartigen familiären Katastrophen so viel Abstand wie möglich nahm, eben weil ja keiner wusste, wie man sich zu verhalten hatte. Ich hätte es so gemacht, wenn Berti mir nicht dazwischengekommen wäre.
Mit diesem seltsamen Gefühl, irgendwo zwischen Trauer und Scham überstand ich die zweite und auch die dritte Nacht in meinem neuen Heim – zu meiner grenzenlosen Überraschung ohne Alpträume. Vermutlich, weil ich kein Auge zutat, denn nebenan entfalteten Rudi und Elli eine unglaubliche Energie beim Bohren und Anstreichen, Zusammenbauen und Möbelrücken. Als es dann gegen fünf Uhr morgens endlich ruhig wurde, fing ich an, mir Sorgen zu machen. Darüber, was die beiden jetzt wohl treiben mochten und im Fall der Fälle, ob Rudi den Liebesangriff von über 200 Kilo Lebendgewicht überstehen würde. Da mich diese Vorstellung sehr erschreckte, wechselte ich den Film in meinem inneren Kino und dachte darüber nach, wo der Ochse, der eigentlich auf den Spieß gehört hätte, hinverschwunden sein könnte. War die Tierleiche gegen die Menschenleiche ausgetauscht worden? Wie viele Leute
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