Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
einer Leistung zu tun hat. Heute aber genügt Lohn nicht mehr, man will die Überbelohnung. Das Verlangen nach Überbelohnung ist die aktuelle Form der Gewinnerwartung. Diese Gesellschaft trifft sich natürlich auch in den Stadien. Da ist man unter sich. Die Leute auf dem Rasen sind mit denen in der Lounge ein Herz und eine Seele. Alle wissen, daß es nur noch um Überbelohnung geht. Wie gefährlich das ist, beginnen wir erst allmählich zu verstehen, denn wir bekommen die demoralisierenden Folgen des Systems nur nach und nach zu Gesicht. Im übrigen ist auch das postmoderne Stadion eine harte Wahrheitsmaschine. Anders als im modernen Theater, wo von Anfang an nur Verlierer auftreten, die über ihre Probleme reden und sich dabei immer weiter verknoten, geht es in der modernen Arena immer nur um die Lust an der Urunterscheidung: Sieg oder Niederlage.
Kurbjuweit/Gorris: Fußball ist auch ein extremes Beispiel für Globalisierung. In einigen deutschen Bundesligavereinen spielt kaum noch ein Deutscher, im Finale der Champions League waren für Arsenal London zwei Engländer auf dem Platz, für Barcelona drei Spanier.
Sloterdijk: Was wir in diesem Finale gesehen haben, wardas Spiel von zwei Weltauswahlen, die lokale Clubs simulieren. Das heißt aber auch, daß der Fußballclub und seine Stadt sich genauso in Standorte verwandeln wie die Städte als solche sich in Standorte verwandeln. In der Ära der Globalisierung, also seit 1492, verwandelt sich Heimat in Standort.
Kurbjuweit/Gorris: Wenn die Champions League ein Wettbewerb der Standorte ist, was ist dann die Weltmeisterschaft?
Sloterdijk: Eigentlich ein restauratives Unternehmen. In einer Situation, in der die Nationen im Postnationalisierungstrend schwimmen, stellen sich dann dem Turnier zuliebe die Nationen wieder als Nationen auf. Das ist ein bißchen regressiv.
Kurbjuweit/Gorris: Warum?
Sloterdijk: Nationalmannschaften haben außerhalb des Turniers fast keine Realität. Im Turnier stellen sie so etwas wie Nationalsimulatoren dar, die eine Population daran erinnern, daß sie sich, wenn sie will, auch national identifizieren kann.
Kurbjuweit/Gorris: Das funktioniert?
Sloterdijk: Überaus gut, weil die Partizipationsgefühle der Menschen sonst chronisch unterbeschäftigt sind. Wir leben nicht in einer Welt, die Partizipationsbedürfnisse anspricht. Im Gegenteil: Man gehört eigentlich immer sich selbst, bestenfalls der eigenen Zukunft. Obendrein hat man ein paar Beziehungen oder ist, wie man so schön sagt, vernetzt. Aber Menschen, die vernetzt sind, sind ja sowieso in einer postnationalen Situation. Im allgemeinen will man die Besessenheit durch die Gemeinschaft nicht mehr. Die Zivilisationsdrift geht dahin, die Gemeinschaften aufzulösen, und zwar aus einem guten Grund: Weil selbstbewußte Individuen die permanente Belästigung durch Zugehörigkeitsgruppen zunehmend schlechter ertragen. Wir wollen weder Repräsentanten des eigenen Stammes sein noch die eigene Nation im Ausland darstellen müssen. Trotzdem gibt es Situationen, in denen man sich für ein paar Stunden wieder national identifiziert.
Kurbjuweit/Gorris: Wenn sich in der Nationalmannschaftdas Nationale zeigt, wäre es dann nicht logisch, in den Einwandererfragebogen beispielsweise die Frage reinzuschreiben: Wer hat 1974 für Deutschland im Endspiel gespielt? Als Beweis dafür, wie sehr sich jemand für dieses Land interessiert?
Sloterdijk: Warum nicht? Andererseits müßte es auch die Möglichkeit geben, durch die gegenteilige Antwort zu beweisen, daß man hierhergehört. Die schlechten Deutschen waren ja bisher die guten Deutschen – das sollte man auch Ausländern erlauben. Wer einwandern will, soll die Freiheit haben zu sagen: »Ich bin ein schlechter Patriot, deswegen passe ich hierher. Diese Mischpoke, Beckenbauer und Co., kann mir gestohlen bleiben. Ich finde den Sport idiotisch, und es ist besser, wir verlieren. Folglich habe ich ein Recht, ein Mitglied dieser Nation zu werden.«
Kurbjuweit/Gorris: Aber das Wunder von Bern sollte der Einwanderer kennen?
Sloterdijk: Man könnte etwa die Frage stellen: »Was ödet Sie am meisten an?« Wenn einer das Wunder von Bern ankreuzt, ist er ein Fall für die Fremdenpolizei. Wer das Wunder von Bern in Frage stellt, steht vermutlich einer terroristischen Vereinigung nahe.
Kurbjuweit/Gorris: Wie erklären Sie sich die hysterische Verklärung, die der WM -Titel von 1954 hierzulande ausgelöst hat?
Sloterdijk: Das hat vor allem mit der
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