Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Intellektualisierung des Fußballs zu tun. Seit es die Massenkulturforschung gibt, wird die Popularkultur insgesamt verklärt. Diese Forschung ist ein Zufluchtsort derjenigen gewesen und geblieben, die den Neomarxismus überlebt haben und nach seinem Dahinscheiden neue Arbeitsfelder gesucht haben. Beim Thema Fußball konnte man irgendwie dem Interesse für das Proletariat treu bleiben. Man mußte nur höherwertige Interpretationen für triviale Ereignisse formulieren.
Kurbjuweit/Gorris: Wie erinnern Sie 1954?
Sloterdijk: Ich habe die kritischen Tage als Kind in München miterlebt. Meine Mutter, die mit Fußball absolut nichts am Hut hatte, nahm mich eines Tages an der Hand und ging mit mir eilig auf die Prinzregentenstraße, wo sich die deutsche Mannschaft nach dem Sieg in Bern zeigte. Auf diese Weise habe ich Fritz Walter mit dem Pokal gesehen. Als meine Mutter mich zum Aufbruch drängte, habe ich gespürt, daß da bei ihr irgendwas nicht in Ordnung war. Für sie war das vielleicht eine Anknüpfung an ihre Zeit beim Bund Deutscher Mädel, wo man von Staats wegen Stolzgefühle zu entwickeln hatte. Ansonsten war sie der unpolitischste Mensch, der mir in meinem Leben begegnet ist. Ich selbst habe natürlich überhaupt nichts verstanden. Ich merkte nur, daß sich die Erwachsenen alle sehr merkwürdig benahmen und begeistert taten aus einem Grund, der mir völlig undurchsichtig blieb.
Kurbjuweit/Gorris: Haben Sie vom WM -Titel 1974 mehr mitbekommen?
Sloterdijk: Damals galt: »Was kümmert mich der Vietnamkrieg, wenn ich Orgasmusschwierigkeiten habe.« Das konnte man in bezug auf so gut wie alles sagen, auch in bezug auf Fußballdramen.
Kurbjuweit/Gorris: Ein richtiger Fan wird aus Ihnen wohl nicht mehr.
Sloterdijk: Ich fürchte, nein. Das einzige, was mich beim Fußball wirklich zutiefst beeindruckt, das ist diese Fähigkeit der jungen Spieler, hinzufallen und wieder aufzustehen. Das finde ich begeisternd.
Kurbjuweit/Gorris: Sie wollen harte Fouls sehen?
Sloterdijk: Nein, ich will nur sehen, wie Männer wieder aufstehen. Ich finde das ein Manifest der Antigravitation. Wenn man älter und schwerer wird, dann weiß man ja, wie es sonst zugeht. Ich falle gelegentlich vom Fahrrad, und die Mühe, wieder auf die Beine zu kommen, ist eine grauenvolle Beleidigung. Deshalb habe ich großen Respekt vor diesem raschen Aufstehen bei hingefallenen Spielern. Das sind Momente, wo ich innerlich total beteiligt bin. Das Hinfallen gehört zur Sache, abererst das Wiederaufstehen macht sie großartig. Ich beklage darum auch die neue Zwangsverarztung auf dem Feld: Ein angeschlagener Spieler, der noch laufen könnte, muß sich auf einer Bahre wegtragen lassen. Schauderhaft.
Kurbjuweit/Gorris: Das paßt nicht zum Jäger, oder?
Sloterdijk: Früher sind die Spieler heroisch selbst an den Rand gehumpelt. Jetzt werden sie obligatorisch abgeschleppt, das halte ich für eine Verirrung.
Kurbjuweit/Gorris: Herr Sloterdijk, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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[ 20 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk, Dirk Kurbjuweit und Lothar Gorris erschien unter dem Titel »Ein Team von Hermaphroditen« im Nachrichtenmagazin Der Spiegel (3. Juni 2006, S. 70ff.).
Dirk Kurbjuweit ist Journalist beim Nachrichtenmagazin Der Spiegel .
Lothar Gorris ist Ressortleiter beim Nachrichtenmagazin Der Spiegel .
Unter einem helleren Himmel
Im Gespräch mit Robert Misik [ 21 ]
Misik: In einer Rede über die 68er haben Sie einmal gesagt: »Man mußte mehr Verwirrung wagen, um mehr Demokratie zu bekommen.« Ist die Verwirrung eine Produktivkraft?
Sloterdijk: Alle wesentlichen Aufbruchsbewegungen seit mehr als 200 Jahren haben etwas mit produktiver Verwirrung zu tun. Immer, wenn es vorwärtsgeht, ist zunächst die Semantik trübe. Wir leben heute in interessanten Zeiten, weil sich die historische Semantik der Linken und der Rechten, die uns seit 200 Jahren Orientierungsdienste leistete, in eine gewisse Konfusion auflöst.
Misik: Wenn die Verwirrung produktiv ist, heißt das dann nicht auch, daß die Systematik unproduktiv ist?
Sloterdijk: Nicht in jeder Hinsicht. Doch Sie haben recht: Wenn die Welt ganz aufräumbar wäre, würde sie sich in ein Museum verwandeln, in dem nach bestimmten Ordnungsprinzipien alles an seinen Platz gestellt wird. Man hätte eine endgültige Beruhigung aller Dinge herbeigeführt und somit das erreicht, was Hegel die Zufriedenheit nannte – eine Art positives Philistertum.
Misik: Der Theoretiker ist immer auch ein
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