Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
davon aus, daß die übrige Welt von ihr lernen muß und nicht umgekehrt. Dabei könnten wir sehr viel von den nicht-westlichen Kulturen lernen: Eine andere Einstellung zum Glück, zum Tod, zu den einfachen, den elementaren Dingen. Mir scheint, es ist ein ernstes Symptom, daß bei uns die einfachen Dinge jetzt als ein Luxus zweiter Ordnung wiedereingeführt werden. Es gibt ein Heimweh nach der Armut, so seltsam dasklingt, und zwar um der elementaren Dinge willen, die mit den ärmeren Verhältnissen verbunden sein können. Es manifestiert sich bei uns ein Überdruß am Reichtum und an der Vielzahl der Optionen, mit denen wir uns ständig zu beschäftigen haben. Darum interessieren sich viele westliche Menschen jetzt für die Lebensweisen von Kulturen, die erst vor dem Übergang in den Reichtum stehen. Ob wir allerdings wirklich daraus etwas lernen können, halte ich für fraglich. Von jemandem etwas zu lernen heißt ja letztlich, mit ihm tauschen zu wollen und ihn als Vorbild nehmen. So weit gehen die westlichen Interessen üblicherweise nicht. Eher wollen sie zusätzlich zu den eigenen Vorteilen auch die der anderen hinzuhaben.
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[ 19 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk und M. Walid Nakschbandi erschien unter dem Titel »Das heilige Feuer der Unzufriedenheit. Peter Sloterdijk über den Fortschritt« in: Claassen, Utz/Hogrefe, Jürgen (Hg.): Das neue Denken – Das Neue denken , Steidl-Verlag, Göttingen, 2005, S. 69-77.
M. Walid Nakschbandi ist Journalist, Fernsehproduzent und Manager der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck.
Ein Team von Hermaphroditen
Im Gespräch mit Dirk Kurbjuweit und Lothar Gorris [ 20 ]
Kurbjuweit/Gorris: Herr Sloterdijk, wie gucken Sie sich die WM an, als Fan oder als Philosoph?
Sloterdijk: Eher als ein Mensch, der sich für die Archäologie der Männlichkeit interessiert. Das Fußballspiel ist atavistisch, und es ist eine anthropologische Versuchsanordnung. Seit einigen tausend Jahren suchen die männlichen Menschen nach einer Antwort auf die Frage: Was macht man mit Jägern, die keiner mehr braucht? Von unserem anthropologischen Design her sind Männer so gebaut, daß sie an Jagdpartien teilnehmen. Doch haben wir seit gut 7000 Jahren, seit Beginn des Ackerbaus, die Jäger einem riesigen Sedierungsprogramm unterworfen. Je höher die Religion, desto stärker war der Versuch, den inneren Jäger davon zu überzeugen, daß es im Grunde eine Schande ist, ein Mann zu sein, und daß Männer als Männer niemals des Heils teilhaftig werden.
Kurbjuweit/Gorris: Es sei denn, sie spielen Fußball und ersetzen die Jagd nach dem Wild durch die Jagd nach dem Tor?
Sloterdijk: So ist es. Es gibt kaum ein Spiel, bei dem unsere alten protoartilleristischen Jagderfolgsgefühle so deutlich imitiert werden können. Wenn man den inneren Jäger ganz paralysiert, ganz umgebracht hat, dann kommt man unvermeidlich zu der Überzeugung, daß es auf der Welt nichts Dümmeres gibt als die Reaktion von Fußballern nach dem Torerfolg.Es ist wirklich obszön, was man da zu sehen bekommt. Eine Pornodarstellerin müßte sich genieren, verglichen mit diesen seltsamen Torschützenorgasmen, die vor zahlendem Publikum zum besten gegeben werden. Aber: Sobald man auf diesen Mord am inneren Jäger verzichtet und die alten Jagdgefühle zuläßt, spürt man sofort, was auf dem Rasen verhandelt wird. Da wird nämlich das älteste Erfolgsgefühl der Menschheit reinszeniert: mit einem ballistischen Objekt ein Jagdgut zu treffen, das mit allen Mitteln versucht, sich zu schützen. Ich glaube, das ist der Punkt, wo man den Begriff »deep play« ins Spiel bringen darf. Er bezeichnet die Arten von Spielen, die den ganzen Menschen mitreißen.
Kurbjuweit/Gorris: Der Ur-Mann im Mann ist also weitgehend nutzlos und nur im Spiel zu gebrauchen. Haben es die Frauen besser?
Sloterdijk: Frauen sind herkunftsmäßig Sammlerinnen, und die braucht man heute mehr denn je, denn aus der Sammlerin wird auf dem kürzesten Weg die Konsumentin. Frauen sind in diesem Punkt viel kapitalismuskompatibler als Männer. In der Konsumentin zeigt sich noch immer diese stille, triumphale Genugtuung der Sammlerin, die in ihrem Korb etwas heimbringt. Daraus ist dieses mysteriöse weibliche Universal der Handtasche entstanden. Ein Mann ohne Speer oder ohne Ball, das geht ja noch, aber eine Frau ohne Handtasche, das ist wider die Natur.
Kurbjuweit/Gorris: Lassen Sie sich persönlich von Fußball mitreißen?
Sloterdijk: Ich habe auf dem zweiten
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