Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Weltaufräumer. In Ihrem letzten Buch haben Sie eine neue Theorie der Globalisierung präsentiert – deren Kennzeichen sei nicht Beschleunigung, sondern Verdichtung. Was hat es mit der Dichte auf sich?
Sloterdijk: Da muß ich schon wieder an den Kollegen Hegel erinnern – und auf dessen Begriff »Weltzustand« verweisen. Weltzustände haben etwas mit der Wahrnehmung von Epochenbrüchen zu tun. Nehmen wir die Zeit 1492 bis 1900 – von der Entdeckung Amerikas bis zum Abschluss der kolonialen Aufteilung der Welt. Europa erlebte bis 1900 eine Menschenüberproduktion für die Expansion. Bis dahin erfuhren die Europäer die Welt als einen undichten Raum. Danach ist die Welt besetzt. Man kann nun nur mehr gegeneinander expandieren. Das Zeitalter der Weltkriege ist das erste Monument dieser Verdichtung.
Misik: Das verändert die Menschen?
Sloterdijk: Es stellen sich die Lebensgefühle um. Die heutigen Europäer haben weitgehend begriffen, daß in einer dichten Welt der gesamte expansionistische, heroische, auf Eroberungen ausgerichtete Habitus nicht mehr operativ ist. Dadurch entsteht der vorsichtigere, berechnendere, höflichere, zivilisiertere Menschentypus.
Misik: Globalisierung ist also Stau?
Sloterdijk: Wo immer man hinkommt, man hat einen Vordermann. Der Entdecker ist derjenige, der als erster ankommt. Seine Epoche endete mit dem Polarfieber, an dem waren übrigens sogar die Österreicher beteiligt – was in der Eroberung von Franz-Josephs-Land gipfelte.
Misik: Als die koloniale Expansion an ihr Ende kam, hat man Eisschollen besetzt?
Sloterdijk: Das zeigt, wie wichtig es damals war, irgendwo als erster zu sein – und wenn es nur eine Insel voller Gletscher war.
Misik: Ist der zeitgenössische Heros nicht der Unternehmer, der Märkte erobert?
Sloterdijk: Während die Welt als Ganzes sich eher umstellt auf den Typus des Kooperateurs, bleibt der Unternehmer weiter auf Eroberung und Expansion orientiert. So werden Ersatzkontinente für Expansion geschaffen. Deshalb der ungeheure Ansturm auf die Kapitalmärkte – sie sind die heutigenKolonien und Franz-Josephs-Länder. In der Realwirtschaft ist der Raum schon dicht, dort ist das Gesetz der gegenseitigen Behinderung längst voll entfaltet. Nur auf den Kapitalmärkten geht der imperiale, expansive Gestus noch in die Verlängerung.
Misik: Diese Welt nennen Sie in Ihrem letzten Buch den »Weltinnenraum des Kapitals«.
Sloterdijk: Die Menschen leben im Kapitalismus unter Bedingungen, die dem Aufenthalt in einem Treibhaus gleichkommen. Um so spontaner regt sich das Postulat, es müsse noch ein Außen geben. Interessant daran ist, daß man sich dieses Außen doch wieder wie ein anderes Innen ausmalt, wo man unter angenehmen Bedingungen abenteuerliche Erfahrungen machen kann.
Misik: Erlebnisse müssen konsumierbar bleiben?
Sloterdijk: Sie sollen auf das Konto der eigenen Persönlichkeit eingezahlt werden. Diese will sich bereichern, nicht Traumatisierungen sammeln.
Misik: Zum Weltinnenraum, darauf insistieren Sie geradezu, gibt es aber auch einen Weltaußenraum. Das ist Ihre Antwort auf Toni Negri und Michael Hardt, die in ihrem Buch Empire von einem kapitalistischen Orbit ohne Zentrum, aber auch ohne Außen ausgehen. Was ist denn das für ein Außen, von dem Sie sprechen?
Sloterdijk: Negri hat ein strategisches Interesse daran, auch die Armutswelten und die Nicht-Komfortzonen für das Empire zu reklamieren, weil er dort die Rekruten seiner Multitude findet, also die Leute, die dagegen sind, die Revolutionäre von morgen.
Misik: … die findet er drinnen auch.
Sloterdijk: Der Traum vom Zusammenschluß der inneren mit der äußeren Opposition ist die Fortsetzung des Traums von der kommunistischen Sammlung. Das ist ein Gedanke, dem ich ein in Kürze erscheinendes neues Buch gewidmet habe – unter dem Titel Zorn und Zeit . Ich zeige da, wie die klassische Linke als Zornbank funktioniert hat, bei der all diejenigen ihren Zorn deponieren konnten, die wußten, daß ohnmächtige Wut nicht genügt. Es braucht Zornbankhäuser in Gestalt linker Parteien, um die Wut der Benachteiligten politisch operational zu machen. Und deswegen funktioniert das Prinzip Links heute nicht mehr, weil die Linke sich selber eher als Teil des Wohlfühlsystems verhält, nicht als Agentur für die Sammlung und Verwandlung von Zorn.
Misik: Was genau ist denn der Grund für diesen Zorn?
Sloterdijk: Das Versprechen des Wohlfahrtsstaats lautete: Arbeitslosigkeit bedeutet nicht Armut, sondern
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