Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
sie nach der Karriere fast ausnahmslos unangenehm werden. Selbst die interessantesten Athleten verwandeln sich, wenn sie als Funktionäre weitermachen, in Muffköpfe. Dann tun sie für den Rest ihres Lebens nichts anderes mehr, als die Gründe, weswegen sie bekannt wurden, Lügen zu strafen. Sie fangen glänzend an – und enden in Selbstdemontage. Das blieb Achilles erspart, weil er einen echten Showdown erlebte.
Kurbjuweit/Gorris: In David Beckham oder Ronaldinho, den Stars des modernen Fußballs, ist der Jäger schwer zu erkennen.
Sloterdijk: Der Star muß heute mit einer permanenten Überbelichtung leben. Er besitzt ein passives Aufmerksamkeitsprivileg: Er wird sehr viel gesehen – und sieht selbst fast nichts. Die Antwort darauf heißt: Werde Model. Am besten kommen daher die Spieler mit ihrer Starrolle zurecht, die bewußt in die Modelwelt wechseln, wie zum Beispiel Beckham. So jemand kann zeigen, daß der Spieler selbst seine Entheroisierung verstanden hat. Folglich ist es heute besser, als Hermaphrodit aufzutreten statt als männlicher Heros. Die Kicker-Models folgen einem evolutionären Trend, der seit den sechziger Jahren zu beobachten ist: dem Zug zur Hermaphroditisierung. Das ist eine Langzeitbewegung, bei der die Männer abrüsten und als Klientel für kosmetische Angebote entdeckt werden.
Kurbjuweit/Gorris: Ist die deutsche Nationalmannschaft ein Team von Hermaphroditen?
Sloterdijk: Im Prinzip ja. Wobei sich Klinsmann dagegen wehrt. Ich denke, der hat den Kuranyi nicht wegen der angeblich schwachen Leistung rausgeschmissen, sondern weil er ihm übelnimmt, daß er eine halbe Stunde braucht, um sein Bärtchen zu rasieren. Das ist auch ein antihermaphroditisches Votum von Klinsmann, ein Anti-Model-Protest.
Kurbjuweit/Gorris: Ihr Kollege, der Berliner Philosoph Gunter Gebauer, sagt: Bis heute bleibe das Spiel mit dem Fuß ein stummer Protest gegen die gelehrte Kultur.
Sloterdijk: Das sehe ich auch so. Für mich war eine der faszinierendsten Fragestellungen der jüngeren Kulturgeschichte die folgende: Warum haben wir die Renaissance vom 15. Jahrhundert bis ins 19. Jahrhundert immer nur als die Wiederkehr der antiken Literatur und der Künste erlebt? Jedes Kind weiß doch, daß die Antike bereits eine faszinierende Massenkultur hatte, den ursprünglichen Sport. Unsere klassische Renaissance jedoch hat nur das wieder heraufgeholt, was dem Pläsier der Oberschichten in die Hände gearbeitet hat. Sehr lange hat man gezögert, neben dem Künstler, dem Philosophen und dem Wissenschaftler auch die faszinierendste antike Figur wieder heraufzubeschwören, nämlich den Athleten. Erst vor 100 Jahren ist dieser zurückgekehrt, und seither prägt er die Szene. Mit seinem Auftauchen gibt es wieder Vollbeschäftigung für die thymotischen Regungen der Menschen. Nach der psychologischen Grundlehre der alten Griechen besitzen wir nicht nur den Eros, der uns Dinge begehren läßt, sondern wir haben auch den Thymos, sprich das Streben danach, die eigenen Vorzüge geltend zu machen.
Kurbjuweit/Gorris: Heutzutage zeigen wir unsere Vorzüge durch gekonnte Dribblings?
Sloterdijk: Auch. Wir haben es endlich gewagt, die antike Massenkultur wirklich zu zitieren – das heißt, neue Kampfspiele aufzuführen. Darum bauen wir seit kurzem neuantike Kampfstätten – das griechische Stadion und die römische Arena.
Kurbjuweit/Gorris: Warum hat man den Athleten erst so spät wiederentdeckt?
Sloterdijk: Man hat wohl gespürt, daß es gefährlich wird, wenn man mit diesen Energien spielt. Erlaubt man dem Volk, sich in Arenen zu versammeln, könnte das leicht politisch brisant werden. Erst als klar war, daß diese Formen der sportlichen Massenversammlung nicht in Revolutionen umschlagen, hat man überall diese neuen Gehege der Massenkultur hingestellt. Die Antike hatte ja hier einen vollkommenen Archetypus hinterlassen – die Arena mit ihren steigenden Stufen. Selbst wenn man die modernsten Stadien ansieht, wie die Allianz Arena in München, erkennt man sofort: Das ist noch immer das Kolosseum.
Kurbjuweit/Gorris: In den modernen Arenen mit ihren Lounges und Business-Bereichen verdrängen die Sponsoren und VIP s die klassischen Fans.
Sloterdijk: Diese Transformation folgt einem Grundtrend des entwickelten Kapitalismus: der Verwandlung der Arbeiter in Spieler, in Börsianer. Für diese ist typisch, daß sie bereit sind, die Verbindung zwischen Leistung und Bezahlung zu durchtrennen. Was Lohn ist, wissen wir ungefähr, weil er mit
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