Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
schlimmstenfalls das Absinken ins untere Kleinbürgertum, unter zwar traurigen, aber nicht elenden Bedingungen. Seit klar ist, daß diese Garantie nicht mehr zu halten ist, wächst die Spannung. Doch fürs erste versinken die inneren Ausgeschlossenen in Depression, für sie gibt es zur Stunde keine Sprache des Zorns, keine historische Perspektive, um von der Depression zum Stolz überzugehen.
Misik: Ein Reflex auf die Globalisierung ist auch der Partikularismus. Ist die Resistenz des Lokalen die Gegenwahrheit zur Globalisierung?
Sloterdijk: Das trifft zumindest für Orte zu, die nicht völlig verwüstet werden, nicht völlig zu Transiträumen, Orten ohne Selbst werden – wie die Flughäfen, Hotels etc. Ich unterscheide zwischen Orten ohne Selbst, den Transitwüsten – und dem Selbst ohne Ort, also den deterritorialisierten Gruppen, die man gern die Nomaden nennt. Dazwischen liegen die Mittelzonen, wo Ort und Selbst durch eine gemeinsame Kultivierung verbunden sind. Das kann man in Mittel- und Westeuropa noch sehr eindrucksvoll erleben – angenehme, zivilisierte Gemeinwesen, wo Lebenskünste zu Hause sind. Übrigens können auch im Bereich des Transitlebens erstaunliche Kultivierungsleistungen entstehen, vor allem in den gehobenen internationalen Hotelketten – wo für Menschen, die zu viel unterwegs sind, ziemlich lebenswerte Luxusoasen eröffnet wurden.
Misik: Kennen Sie Menschen, die an solchen Orten glücklich sind?
Sloterdijk: Nun ja, das Glück ist eine flüchtige Größe – Freud suggerierte sogar, es sei für den homo sapiens von der Evolution nicht vorgesehen. Der Mensch muß schon froh sein, wenn er in gewöhnlichem Unglück residiert statt im neurotischen Elend.
Misik: Sie haben einmal anläßlich Ihres Streits mit der Frankfurter Schule angemerkt, es handele sich vor allem um einen Gegensatz der Stimmungen. Während man bei der Kritischen Theorie immer die Bereitschaft mitbringen muß, sich deprimieren zu lassen, sind Sie doch eher ein Denker des Fröhlichen. Wie können Sie da sagen, der Mensch ist fürs Unglück bestimmt?
Sloterdijk: Die Kritische Theorie war einmal meine theoretische Heimat. Sie war durch die Erfahrung mit dem Holocaust geprägt, durch die Universal-Entmenschlichung. Diese lieferte die generationsprägende Erfahrung der ersten Jahrhunderthälfte. Im übrigen war die Stimmung des französischen Existentialismus auch nicht viel heller. Die Jahre nach 1968 haben dann einen Test darauf gemacht, wie weit solche Beschreibungen noch taugen – nicht wirklich, wie sich zeigte. Unsere veränderten Erfahrungen mußten sich irgendwann in einen neuen Habitus übersetzen. Deshalb trat die Nach-68er-Linke als hedonistische Linke auf. Man war sich sicher, daß man durch die eigene Libidoentfesselung das Glück der Menschheit herbeiführt.
Misik: Sie waren Ende der siebziger Jahre Sanjassin, lebten eine Zeitlang bei Bhagwan in Poona.
Sloterdijk: Das Indienabenteuer war bei mir ein Ausfluß dieser Siebzigerjahrestimmung. Und hinzu kam die Überzeugung, daß ein rein materialistischer Revolutionsbegriff unzureichend ist. Man wollte damals Basis und Überbau umkehren und den mentalen Faktor ins Zentrum stellen.
Misik: Es gibt so Metaphern für Prägungen. Manche sagen:Einmal Trotzkist, immer Trotzkist. Kann man auch sagen: Einmal Sanjassin, immer Sanjassin?
Sloterdijk: Im Grunde ja. Die Umstimmungserfahrung von damals bleibt irreversibel. Wer sie gemacht hat, wird unempfänglich für Theorien, in denen die Depression immer recht hat. Auch will man den Wettbewerb, wer der Unglücklichste ist, nicht mehr um jeden Preis gewinnen. Man lebt unter einem helleren Himmel. Was mich betrifft: Indien ist völlig in den Hintergrund getreten, aber die damals erlebte Umstimmung wirkt immer noch nach.
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[ 21 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk und Robert Misik erschien unter dem Titel »Unter einem helleren Himmel« in der taz (13. Juni 2006).
Robert Misik ist ein österreichischer Journalist und Schrifsteller.
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Im Gespräch mit Torsten Casimir [ 22 ]
Casimir: Das Lesen und das stammesgeschichtlich viel ältere Spurenlesen hängen neurobiologisch eng zusammen. Was bedeutet es, wenn eine Gesellschaft diese Fähigkeiten immer mehr abbaut?
Sloterdijk: Zu beobachten ist ein Wandel der Findesysteme. Das alte System des Spurenlesens ist mehrmals ersetzt worden: Erst hat der Bauer den Jäger verdrängt. Dann hat der städtische Mensch den Bauern verdrängt. Und
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