Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Bildungsweg einen passablen Bezug zum Fußball gefunden. Um ein normaler Mensch zu werden, mußte ich allerdings den Umweg über die Anthropologie gehen. Als Anthropologe erlaube ich mir dann auch sozusagen, Mensch zu sein. Zur Grundausstattung des Menschlichen gehört ein gewisses Maß an Bereitschaft, gemeinsam mit anderen verrückt zu werden. Und das gestatte ich mir auf meine alten Tage hin und wieder.
Kurbjuweit/Gorris: Haben Sie einen Goleo gekauft?
Sloterdijk: Ich bin nicht der Maskottchentyp.
Kurbjuweit/Gorris: Singen Sie die Nationalhymne mit?
Sloterdijk: Dazu bin ich physiologisch unfähig. Ich beobachte manchmal die Spieler und sehe, wie manche bei der Hymne so verkniffene kleine Lippenbewegungen machen. Andere verfallen in tiefes, deutsches Schweigen. Das wäre wahrscheinlich auch mein Fall. Ich habe sonst für Gesang viel übrig, aber nur in künstlerischer Gestalt. Das Singen von Nationalhymnen gehört nicht zu meiner Grundausbildung.
Kurbjuweit/Gorris: Nationalmannschaft ist einer der wenigen Begriffe, wo wir uns das Wort Nation erlauben. Was bedeutet die Nationalmannschaft speziell für uns Deutsche?
Sloterdijk: Zunächst bedeutet sie dasselbe wie bei allen modernen Nationen, die solche Selbstdelegationen auf ihre Mannschaft vollziehen. Da geschehen Stellvertretungsrituale, an denen sich ein Großteil der Population beteiligen will. Wir Deutschen haben in dieser Angelegenheit – wie in den meisten anderen – eine Sonderstellung, weil wir durch unsere Geschichte, spätestens seit 1918 und dem Versailler Vertrag, ein verwundetes Kollektiv sind, teilweise sogar ein revanchebedürftiges. Und nach 1945 wiederum ein Kollektiv, das selbst vor seinen Revancheimpulsen Angst hat und auch die wegzensiert. Wir sind eine bizarre Gruppe, die nur im Modus der Reue inneren Zusammenhang erleben kann.
Kurbjuweit/Gorris: Sie haben geschrieben, Nationen seien Erregungsgemeinschaften. Was kann eine Nation mehr erregen als die WM im eigenen Lande? Es gibt immer noch eine Menge Leute, denen beim Gedanken an ein erregtes Deutschland mulmig wird.
Sloterdijk: Natürlich. Wenn man die Erfahrung gemacht hat, daß die Kollektiverregungen, um mit Thomas Mann zu reden, »dämonisches Gebiet« sind, dann wird man vorsichtig bei allem, was aufputscht. Wir sind gebrannte Kinder, seit wir erlebt haben, daß Kollektiverregungen auch immer Produkteiner gewissen politischen Regie sein können. Solche emotionalen Liturgien werden nach bestimmten Regeln erzeugt und sind von Hause aus instrumentalisierbar. Die Samstagsunterhaltung und der Wille zum Krieg sind psychologische Verwandte. Daher erweist sich der Enthusiasmus als ein mißbrauchbares Phänomen. Also sollte man die deutsche Vorsicht nicht nur als eine Neurose ansehen. Es würde genügen, darauf hinzuweisen, daß man auch die Vorsicht moralisch mißbrauchen kann. Wer als Deutscher einmal miterlebt hat, wie Engländer feiern und Hymnen singen, meint unwillkürlich, der Faschismus sei auf die Britische Insel ausgewichen. In uns sitzt ein Pädagoge, der auch den anderen ein Ernüchterungsprogramm made in Germany vorschlagen möchte, weltweit.
Kurbjuweit/Gorris: In Deutschland wird Erregung schnell häßlich. Das hat der Streit um Jürgen Klinsmann gezeigt. Warum können wir nicht dem Bundestrainer und seiner Mannschaft vertrauen?
Sloterdijk: Vertrauen ist keine deutsche Option. Wir kennen ja Lenin: »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.« Die Deutschen machen daraus: »Vertrauen ist gut, Gemecker ist besser.« Es gibt einen unglaublich starken Herabsetzungsaffekt bei unseren lieben Landsleuten. Deswegen ist das Amt des Bundestrainers in diesem Land noch ungemütlicher als in anderen Ländern. Doch allgemein gilt, daß der Nationaltrainer so etwas wie ein Jagdgruppenleiter ist, und seine Erfolge wirken auf die Stimmung des Kollektivs ein.
Kurbjuweit/Gorris: Meckern wir uns unsere letzten Helden zugrunde?
Sloterdijk: Helden haben wir ohnehin nicht mehr. Wir haben sie durch Stars ersetzt.
Kurbjuweit/Gorris: Was unterscheidet den Star vom Helden?
Sloterdijk: Der Held stirbt früh, und der Star überlebt sich – mit dieser Formel bekommt man Übersicht auf diesem Feld. Beide sind eigentlich zu einem frühen Ende berufen. DerHeld auf dem Schlachtfeld, wo er fällt, der Star durch seine Wiedereingliederung ins zivile Leben, was ja einer Ausmusterung und somit einem symbolischen Tod gleichkommt. Insofern wäre für die meisten Sportler ein früher Tod nicht schlecht, weil
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