Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Landsmann Egon Friedell, wenn er statuiert: Kultur ist Reichtum an Problemen. Man darf an allem sparen wollen, an den Problemen nicht.
KLEIN: Von Ihren Interviews habe ich in diversen Zeitungsarchiven und im Internet bisher ungefähr dreihundert ermitteln können. Wenn wir hier davon etwas mehr als dreißig ausgewählte Stücke präsentieren, ergibt das tatsächlich nur den über Wasser sichtbaren Teil, um beim Eisberg-Bild zu bleiben. Welche Rolle spielen die Interviews in Ihrer publizistischen Tätigkeit? Dienen sie dazu, die »Geschäftsführung des eigenen Namens« zu betreiben, wie Sie das selbst einmal formuliert haben.
SLOTERDIJK: Sehen Sie, es gab Autoren von hoher Reputation, die nie Interviews gegeben haben, und solche, die es selten taten und tun. Daneben andere, die sorglos Interviewvorschläge akzeptieren. Ich würde mich dem letzteren Typ zurechnen. Daß dabei Namens-Management betrieben wird, ist ein Nebenaspekt, den man in Kauf nimmt. An den meisten Gesprächen müßte der Leser merken, daß ich nach spätestens einer Minute dergleichen vergesse, sollte ich zuvor daran gedacht haben. Das Interview ist eine literarische Produktionsform unter anderen, ich verstehe es als eine Untergattung des Essays. Ich habe es häufig praktiziert, nachdem ich mich nach einigem Sträuben mit der Rolle des public intellectual abgefunden hatte, die sich aus dem Erfolg meiner ersten Veröffentlichungen ergab. Wie man leicht erkennt, bin ich ein behauptungsfroher Formulierer, und wenn ich mich erst einmal in den Redestrom gestürzt habe, sind Sorgen um Wirkung inexistent. Die werden nur in der Phase der Nacharbeit akut, ich bin empfindlich gegen mißglückte Wendungen.
KLEIN: Insofern sind Ihre Interviews auch keine eins zu eins »live«-Veröffentlichung. Sie werden immer von Ihnen durchgesehen.
SLOTERDIJK: Sagen wir, sie sind eine Mischform aus Improvisation und redigierter Arbeit. Wobei der redaktionelle Anteil manchmal nicht über die eine oder andere Retusche hinausreicht, in anderen Fällen geht er bis zu einer kompletten Neufassung.
KLEIN: Aus dem jungen, scheuen Sloterdijk, den man in älteren Aufzeichnungen sehen kann, wird mit den Jahren ein Star. Auf mich wirkt er wie ein Koloss der Ausdrucksgewalt, mündlich und schriftlich. Diese Schaffenskraft, so kommt mir vor, mit normalen Maßstäben ist sie nicht zu erklären. Ein Rätsel bleibt, wie Sie das bewältigt haben.
SLOTERDIJK: Daß durch mich eine Menge hindurchgegangen ist, soviel kann ich zugeben. Hin und wieder habe ich Freude an dem starken Durchzug, keineswegs immer. Mein Grundgefühl ist wie bemerkt nicht das von übertriebener Produktivität, sondern das von Empfänglichkeit für Evidenz aus allen Richtungen, was ich eben Wehrlosigkeit nannte. In der Entstehungsphase gefallen mir auch meistens die Dinge, die ich mache, ich verliere sie aber schnell aus dem Blick. Es mag seltsam klingen, Erfolgsgefühl kommt nur kurz und selten auf, sollte auch ein größeres Werk zustande gekommen sein. Ich kann solche Regungen entweder nicht entwickeln oder nicht festhalten. Vor mir liegt immer wieder das leere Blatt, das beweist, es ist noch nichts geleistet. Ich fahre also die Antennen aus und fange mit dem Neuen an. So absurd es klingt, ich habe mich meistens im Verdacht, nicht genug zu tun. Das zeigt wohl, daß ichnicht mit Rückblicks-Intelligenz ausgestattet bin. Ich sehe meine Vergangenheit nicht, es bleibt mir gar nichts anderes übrig, als in Bewegung zu bleiben. Vielleicht wäre das die nächste Lektion: Verlangsamung und Rückkehr in den Augenblick. Aber ich mißtraue noch solchen Suggestionen und schimpfe sie Pensionärsgedanken.
KLEIN: Es heißt, Sie hätten in jüngeren Jahren in einer Wohngemeinschaft gelebt. Wie schafften Sie es, mitten im Chaos kreativ zu sein? Viele würden sagen, in einem solchen Umfeld könnte ich nie etwas zu Papier bringen!
SLOTERDIJK: In der Münchener Wohngemeinschaft war ich nicht als Interner, aber als besuchendes Mitglied auf täglicher Basis. Was mir schon damals an mir selber auffiel, war die Fähigkeit, durch nichts aus der Bahn geworfen zu werden. Ich hatte immer ein intensives Beziehungsleben, ich war mit Frauen und Freunden eng liiert, wir waren viel aus und oft unterwegs. Seit zwanzig Jahren dominiert bei mir die Lebensform Familie, das ist auch keine reine Solitüde. Sehr gut erinnere ich mich an die Zeit, als ein wirbeliges Kleinkind durch mein Arbeitszimmer stürmte. Es amüsierte mich, ich konnte nicht
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