Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
heißt, wenn man die letzten Spuren der Originalsituation ausgetilgt hat, die nur das Rohmaterial für das Endprodukt hervorruft. [ 37 ]
Die Art der Überarbeitung vor der Veröffentlichung geht mit Sloterdijks Hang zum hyperbolischen (übertriebenen) Philosophieren und Konstatieren zusammen. Er kämpft gegen die Agonen der Untertreiber in unserer Kultur an und betont, daß ein Wesen, das einen Neocortex hat, per definitionem nie überfordert sein kann – nie –, weil wir von dem, was wir haben, höchstens 7 bis 8 Prozent auslasten, selbst die Genies realisieren einwinziges Potential! Mit anderen Worten, es geht darum: wie macht man mit der Unterforderung des Menschen durch den Menschen ein Ende! Dafür war eigentlich Aufklärung vor einigen hundert Jahren einmal das Programmwort, daß sozusagen die systematische Unterbietung des Menschen durch den Menschen ein Skandal ist, der nicht länger aufrechterhalten werden kann, wenn wir Menschen dazu bringen, sich mit den intelligentesten Mitgliedern ihrer Gattung zu identifizieren. [ 38 ]
Sloterdijk ist ein Übertreiber im besten Sinne; ein Übertriebener, Überraschender und Überblicker; er ist ein Umtriebiger, wenn auch scheinbar nie überforderter Zeitdiagnostiker.
Als ein Protagonist auf der Denk- und Wahrheitsbühne der Existenz setzt sich Sloterdijk immer wieder dem Risiko der Kritik und des Scheiterns aus. In bewundernswerter Weise entwickelte er sich vom anfänglich sprachgewaltigen Schriftsteller zum preisgekrönten Rhetoriker.
1983 erschien sein Buch Kritik der zynischen Vernunft im Suhrkamp Verlag. Es zählt heute zu den meistverkauften philosophischen Werken des 20. Jahrhunderts.
Mit diesem Buch trat Peter Sloterdijk in einen Mediendiskurs ein, der nun schon 30 Jahre andauert. Er scheute sich nicht, Thesen, die in seinen Büchern manchmal blumig und in Metaphern versteckt sind, öffentlich zur Diskussion zu stellen.
Seine Interviewtätigkeit nahm seit den 1980er Jahren exponentiell zu. War in den 1980ern und 1990ern die mediale Präsenz noch überschaubar, so setzte in den 2000er Jahren eine stupende Interviewtätigkeit ein.
Formal lassen sich kurzweilige [z.B. Rollender Uterus ], mittelweilige [z.B. Felix Schmidt] und längere [z.B. Macho, Raulff] Gespräche Sloterdijks unterscheiden. Zwei Gespräche von letzterer Art wurden schon gesondert veröffentlicht als Selbstversuch mit Carlos Oliveira (1994) und Die Sonne und der Tod mit Hans-Jürgen Heinrichs (2001).
Sloterdijks Interviews werden oft im Zusammenhang mit seinen Buchveröffentlichungen und den sie begleitenden Lesereisen geführt. Sie werden aber auch gezielt zur Unterstützung und Erklärung seiner sozio-politischen Standpunkte veröffentlicht. (Er plant derzeit die Einrichtung eines Instituts für Psychopolitische Forschung.)
Inhaltlich erstrecken sich die Gespräche auf Thematiken wie (Internationale) Politik, Wirtschaft, Geschichte, Sport, Kino, Kultur und Philosophie.
Hier ein kurzer allgemeiner Überblick der Interviews in aleatorisch zusammengestellten Stichworten:
Weltwirtschaftkrise, Banlieu, Tour de France, Fußball-Weltmeisterschaft, Daniel Goldhagen, Sphären, Blasen, Globen, Weltfremdheit, Zynismus, Kristallpalast, Treibhaus, Zorn, Globalisierung, Kapital, Fernsehen, Interview, Askese, Design, Halbmondmenschen, Automenschen, Beethoven, Kohl, deutsche Nachkriegszeit, Architektur.
Immer dann, wenn sich die Sensationslust der Presse manifestiert, entstehen Debatten, deren Dynamik Sloterdijk selber analysiert.
Oft werden in diesen Debatten Spieler und Gegenspieler agonal herausgeschält. Viele deutsche zeitgenössische Philosophen sehen es nicht als wichtig an, in diese Debatten einzugreifen. Sie bleiben lieber »Denker im Elfenbeinturm« als »Denker auf der Bühne«.
Folgende öffentliche Debatten hat Sloterdijk in den Medien ausgelöst:
– die Debatte über die »verspielte Aufklärung« ( Kritik der zynischen Vernunft , 1983ff.)
– den »High-« gegen den »Low-Culture«-Streit (Blick zurück auf Dorn, Münchener Kammerspiele – Sloterdijk – Nida-Rümelin, 1999)
– die Debatte über den Vortrag »Regeln für den Menschenpark« / später über die Gentechnik (Sloterdijk – Habermas, 1999ff.)
– die »Steuer«-Debatte (Sloterdijk – Honneth, 2009ff.).
Peter Sloterdijk scheut sich nicht, sich einzumischen, indem er seine Formuliergabe als öffentliche Einlassungen verbreitet. Dabei schweift er nicht selten ab, um dem Leser mit einer neuen Wendung oder Analogie
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