Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
damit die Wahrheit retten, indem wir die Schöpfung als zweitbeste ansehen, vielleicht sogar als eine mißlungene oder eine, die mit einem immanentenHang zum Mißlingen ausgestattet ist. Das ist ein ganz anderer Denkansatz, und der schlägt durch in die Anthropologie und macht negative Anthropologien möglich, das heißt Lehren von der Abwesenheit des Menschen von der Welt, als eine Art Theorie der Nacht und des Schlafes, der Absenz. Sobald das ausführlich genug formuliert ist, wird man sehen, daß der Mensch so insgesamt besser beschrieben werden kann als in den positivistischen Anthropologien.
Dauk: Ist die Nachtseite des Menschen nicht nur die halbe Wahrheit?
Sloterdijk: Sie ist die vergessene Hälfte der Wahrheit. Es kommt jetzt darauf an, die Erkenntnisse der Anthropologie so weiterzudenken, daß wir im Kontinuum der westlichen Lernprozesse bleiben und trotzdem einem taoistischen Weisen, einem indischen Sadhu und einem verzückten Chassid auf Augenhöhe Rede und Antwort stehen.
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[ 1 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk und Elke Dauk erschien unter dem Titel »Der Halbmondmensch« in der Frankfurter Rundschau (29. September 1993, S. ZB 2).
Elke Dauk ist Suhrkamp-Autorin von Der Griff nach den Sternen. Suche nach Lebensformen im Abendland (Insel Verlag 1998).
Warum sind Menschen Medien?
Im Gespräch mit Jürgen Werner [ 2 ]
Werner: Üblicherweise verstehen wir unter Medien Apparate, die Bilder und Töne übermitteln. Sie hingegen vertreten die These, daß Menschen Medien seien. Warum?
Sloterdijk: Nun, ein Medium sein heißt, eine Mitte einnehmen in einem mindestens dreigliedrigen Feld. Und das ist ein Phänomen, dem sich die zeitgenössischen Menschen vor allem zuwenden unter dem Aspekt der technischen Medien. Wir haben Radioempfänger. Wir haben Fernsehempfänger. Wenn Herr A dem Herrn B eine eilige Nachricht zukommen lassen möchte, dann verwendet er das, was man ein neues Medium nennt, ein Telefon oder ein Faxgerät. Nun ist es eine kulturanthropologisch gutbegründete Tatsache, daß Medien ursprünglich nicht Apparate sind, sondern Personen. Erst die Moderne hat es dahin gebracht, die Rolle des Vermittlers von Personen auf Apparate zu verschieben. In diesem Drama der Verschiebung sind die Betriebsgeheimnisse der Moderne verborgen.
Werner: Zwischen was steht der Mensch, wenn er als Mittler dasteht?
Sloterdijk: Zunächst wie die Apparate auch: zwischen kommunizierenden Seiten. Das kann man sich leicht klarmachen, wenn man an reisende Händler denkt, die in der Antike eine gewaltige Rolle gespielt haben, weil sie die Funktion des Grenzgängers wahrgenommen haben. Sie waren Leute, die zwischenin sich geschlossenen Kulturen hin- und hergingen. Man darf sich ja die Welt damals nicht wie die heutige als eine Welt von Touristen vorstellen. Die Epoche der Seßhaftigkeit zu rekonstruieren erfordert von Menschen unserer Zeiten, sich in eine Lebensform zurückzudenken, die weitgehend charakterisiert ist durch das, was die benediktinischen Mönche stabilitas loci , Ortsfestigkeit, genannt haben. Deswegen sind in seßhaften Kulturen die Menschen, die mehr als ein Dorf, mehr als eine Stadt gesehen haben, so außerordentlich wichtig. Sie erscheinen wie Präfigurationen von Boten, die aus einem Jenseits stammen. Es gab in der Antike einen Stand von wandernden Predigern, Philosophen, Erziehern, Rhetoren, die von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt gezogen sind und vor wechselndem Publikum versucht haben, ihre Lebensweisheiten, ihre Tricks, ihre Doktrinen an den Mann zu bringen. Sie sind die eigentlichen Vorfahren dessen, was man heute Consulting-Experten nennt. Sie sind zugleich Repräsentanten dessen, was ich den personalen Mediumismus nenne. Diese Phänomene des personalen Mediumismus sind im übrigen völlig rational. Darauf kommt es mir nachdrücklich an. Der Begriff des personalen Mediums ist seit dem 19. Jahrhundert in die okkulte Ecke, in die Narrenecke gedrängt worden. Menschen, die Stimmen hören, werden heute großzügig und schnell psychiatrisiert. Für den heutigen Sprecher der Standardsprachen macht das den Gebrauch des Begriffs Medium außerordentlich schwierig. Mir liegt daran, Mediumismus als einen anthropologischen Begriff zu entwickeln, dessen Anspruch so weit reicht, daß man über den Menschen überhaupt keine Aussage machen kann, wenn man nicht sagt, in welchem medialen Regime er lebt.
Werner: Medium sein heißt ja, einer Sache nicht gegenübertreten zu können, sondern auf etwas
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