Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
sind.
Werner: Wenn die Medien sich so entwickeln, wie das propagiert wird, haben wir es in ein paar Jahren mit hundert oder mehr Fernsehkanälen zu tun. Es wird also keine Weltsynthetisierung geben, sondern eine durchgängige Separation der Menschen. Keiner schaut mehr das, was der andere gesehen hat; jeder nimmt nur noch sein eigenes Programm wahr?
Sloterdijk: Aber ich glaube, daß diese Szenarien alle nicht stimmen. Trotz der Multiplikation der Kanäle wird hier und dort eine interessante Nische entstehen. Deswegen muß man diese Entwicklung nicht übermäßig fürchten. Es wird sich eher herausstellen, daß die Gesellschaft auf die Erfahrung ihrer Entgeisterung in einer noch härteren Form zurückgebracht wird, als es jetzt schon der Fall ist. Diese Tendenz zum elektronischen Kiosk hin wird aber auch ein Feld zusätzlicher Spielereien öffnen. Darin liegt die große Chance. Es gibt in unserer Kultur sehr viele Menschen, die nichts mehr zu tun haben; es gibt sehr viel Arbeitslosigkeit, innerlich mehr noch als äußerlich, und daher einen ungeheuren Bedarf an Mikrodramen.
Werner: Wie sähe denn eine Gesellschaft aus, in der Grundformen von Sensibilität, von Offenheit, von recht verstandener Selbständigkeit wieder verstärkt werden könnten? Und welche Rolle spielten darin die apparativen Medien?
Sloterdijk: Ich glaube, die apparativen Medien werden die Schule einfach ersetzen. Darauf setze ich sehr viel Hoffnung.
Werner: Das wäre aber doch wieder eine Entfremdung von personaler Begegnung?
Sloterdijk: Ja, aber das wäre eine Entfremdung von einem personalen Unterricht, der sowieso schon entfremdet ist. Die Anschauung der Lehrer ist für die heutige Generation eine Initiation in die Dummheit als Normalzustand. Der durchschnittliche Lehrer repräsentiert das papageienhafte Endresultat von Erziehung. Und das dreizehn Jahre anzuschauen ist von einer solchen Obszönität, daß eigentlich nur durch ein Wunder jemand diesen Anschauungsunterricht übersteht. Es ist also gut, wenn alles, was im Unterricht nur auf Weitersagen, auf Stoff, auf Fach beruht, verschwindet. Das alles sind Großattentate auf die menschliche Intelligenz. Um ihnen einen Riegel vorzuschieben, sind die apparativen Medien großartig. In zehn Jahren könnten alle Fächer auf amüsante, großartige, lebendige Weise computerisiert sein. Kein Lehrer wird mehr mithalten können. Das Coolneß-Syndrom hat auch mit der Institutionalisierung der Dummheit durch öffentliche Schulen zu tun. Die Kinder sitzen immer defätistischer, immer besiegter und immer lustloser in diesen Zwangsveranstaltungen herum. Natürlich muß ich als junger Vater mir über Dinge den Kopf zerbrechen, die mich früher nicht berührt hätten. Ich denke heute schon mit Grauen an Lehrer, die ich kenne. Wenn ich mir vorstelle, daß ich mein Kind fünf Stunden am Tag solchen Leuten ausliefern müßte, würde ich zum Amokläufer – oder zum Weltverbesserer. Solange mein Verhältnis zur Gewalt so prekär ist wie heute, werde ich mich wohl für die Lächerlichkeit der Weltverbesserung entscheiden.
Werner: Was muß geschehen, daß der moderne Mensch sich wieder als Medium entdeckt?
Sloterdijk: Die Kulturkritik prügelt immer auf den Massenmedien herum. Mir scheint das nicht sinnvoll. Die deformierende Arbeit, die schon tiefer ansetzt, sollte man sich genauer ansehen. Vor allem, weil dort so viel Demoralisierung passiert. Weil dort etwas zerstört wird, was unter keinen Umständen zerstört werden darf, nämlich die Einsicht in die Tatsache, daß das Wissen aus der Euphorie geboren wird und daß Intelligenz ein Selbstverhältnis des glücklichen Bewußtseins ist. Und daß die Intelligenz auch in der Fähigkeit besteht, die Langeweile, die in einem unterbeschäftigten Gehirn aufkommt, mit eigenen Mitteln zu überwinden. Das ist gesellschaftsweit das beunruhigendste Syndrom: daß keiner mehr ehrgeizig genug ist, bei sich selber ausloten zu wollen, wie weit das Verstehen reicht. Intelligenz ist das letzte utopische Potential. Die einzige terraincognita , die die Menschheit noch besitzt, sind die Galaxien des Gehirns, die Milchstraßen der Intelligenz. Und in denen gibt es kaum überzeugende Raumfahrt. Diese innere Astronautik ist im übrigen die einzige Alternative zu einer konsumistischen Perspektive. Nur sie könnte künftig dem Menschen erklären, daß sein Intelligenzraum so unermeßlich ist, daß er Jahrtausende mit sich selber experimentieren kann, ohne sich zu erschöpfen. Die einzige
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