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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Erfolg gehabt, weil es ein deutsches Sprachspiel auf einem avancierten Stand der Möglichkeiten neu gespielt hat.
    Dauk: Sie haben damals am Beispiel der Atombombe das Subjekt als reinen Selbst- und Weltvernichtungswillen charakterisiert. Gilt diese Analyse auch heute noch?
    Sloterdijk: Im Prinzip ja. Nur, die gesellschaftlichen Stellungen haben sich sehr stark verschoben. Wir haben jetzt diesen paranoiden Zweikampf nicht mehr vor Augen, der in der Zeit des Kalten Krieges zwei exemplarische politische Megazentren gegeneinanderstellte. Heute geht es nicht mehr so sehr darum, solche Subjekte zu entwaffnen oder über sich zu belehren, das natürlich auch, sondern darum, sie so zu reformieren und zu informieren, daß sie mit ihrer eigenen Größe, mit ihrem eigenen Gewaltpotential und ihrer eigenen Paranoia leben können. Es geht, so paradox das klingen mag, nicht darum, diese Großsubjekte zu zertrümmern, sondern darum, ihnen beieinem erfolgreichen Funktionieren zu helfen. Erfolgreich bedeutet hier: jenseits der Selbstzerstörung.
    Dauk: Ist der kynisch-zynische Impuls noch der Motor Ihres Denkens?
    Sloterdijk: Kynisch-zynische Impulse führen nicht zum Denken, sie führen zu einer Abschwörung an Zumutungen. Denkmotoren liegen nicht auf der Ebene von kynisch und zynischen Impulsen, weil diese etwas mit defensiven Bewegungen zu tun haben, defensiven Regungen. Der zynische Impuls ist die Ablehnung, die der Mächtige empfindet, wenn man von ihm verlangt, er soll sich vor der Moral oder vor einer Norm kleinmachen. Dazu fühlt er sich zu stark und wird zynisch. Und der kynische Impuls ist die Abwehr, die die Vitalität der »armen Hunde« hervorbringt, wenn man von ihnen verlangt, sie sollen sich an Normen halten, die für andere geschaffen waren. Die sind auf ihre Weise auch zu kräftig, um sich kastrieren zu lassen durch einen Normativismus, der sie vereinnahmen möchte für eine Art von Gesellschaftsspiel, bei dem sie vorher nicht gefragt wurden, ob sie es mitmachen wollen. Es ist eine Art individualistischer Résistance in beiden Fällen, die an den Grenzen des Moralismus operiert, einmal von oben, einmal von unten. Für sie gibt es seit dem Beginn der Städte und Reiche Dokumente aus den verschiedenen Weltkulturen. Man kann beobachten, daß diese Art von Résistance, diese Abschwörung an das Reichsethos, von oben wie von unten, seit etwa zweieinhalbtausend Jahren sich meldet, und das vor allem im westlichen Bereich, wo es immer eine besondere Lizenz gegeben hat für veristische Widerstände, das heißt also, wo das Wahrheitsorakel auch in einem frechen, einem immoralistischen Ton besser funktioniert hat als, sagen wir mal, in China oder anderswo, wo der politische Zwang, schön zu reden und die Sachen zu sagen, die »sich gehören«, viel lückenloser funktioniert. Um auf Ihre Frage zurückzukommen, Denkmotoren liegen bei mir und, wie ich glaube, bei den meisten Philosophen in einem tieferen Feld. Es sind nicht Widerstände, sondern es sind Rätsel, die zu denken geben. Wenn man ein großes Nein in sich trägt, das führt einen bis in die Therapie, wenn's hochkommt. Aber wenn man ein Rätsel in sich hat, dann kommt man entweder in die Kunst oder in die Philosophie. Ich sehe meine Arbeit am Schnittpunkt dieser Felder.
    Dauk: Sie haben sich in den letzten Jahren mit der Gnosis beschäftigt. Während der Kyniker auf einem erfüllten Leben beharrte, sucht der Anhänger der Gnosis umgekehrt die Weltflucht. Ist das nicht ein Weg vom »Leben als Wagnis« zum »Leben als Trauerarbeit«?
    Sloterdijk: Im Gegenteil. Ich bin heute viel optimistischer als in dem Buch Kritik der zynischen Vernunft , denn das Buch sprach damals nur die Sprache einer Protestheiterkeit. Man kann den Krieg erklären, und man kann die Ferien erklären, und das Buch hat die Ferien erklärt. Und zwar in einer polemischen Absicht gegen eine Gesellschaft, die den Krieg und die Sorge erklärt hatte. Ich sehe heute andere Horizonte und denke von einem anderen Zentrum her, das mehr durchgeklärt ist und über die Gründe seiner Heiterkeit andere Informationen hat. Die Gründe der Heiterkeit haben sich gegenüber der Kritik der zynischen Vernunft viel tiefer verlegt. Daher arbeite ich nicht mehr an einer Theorie des Protests, sondern an einer Fundamentaltheorie des abwesenden Menschen. Das heißt, ich entwickle mit anthropologischen Argumenten die These, daß Menschen sowieso der Welt in einem hohen Maße abgekehrt sind und daß sie immer auch im Modus der

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