Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Nichtanwesenheit, im Modus des Nichtwissens, in einer nächtlichen Weltbeziehung existieren. Daher sehe ich keine Gründe, zumindest von der Anthropologie her, die Zwangsvereinnahmung der Individuen zugunsten einer Totalität namens »Wirklichkeit« fortzuschreiben. Das machen ja die heutigen Medien, soweit sie immer noch mit ihrer Sorgenagitation fortfahren, indem sie Menschen ständig überschütten mit unbekömmlichen Nachrichten, aus einem gewissen informatischen Sadismus, in dem es heißt: »Wir haben den Mist aufgenommen, um ihn weiterzugeben, denn ihr seid die wahren Adressaten.« Jeder versucht, Medium zu sein und nicht Filter. Filter und Endabnehmer sind immer die anderen. Ich glaube, man kann zeigen, daß Menschen nie Endabnehmer von Unglück sein müssen. Aus ihrer eigenen Beschaffenheit heraus sind sie wie Halbmonde auch nur mit der Hälfte der Welt zugewandt und gehören zur Hälfte einem andern Prinzip, das nicht erreichbar ist von dieser Sorgenagitation.
Dauk: Ist das Verhältnis von Ich und Welt das Grundthema Ihrer Arbeiten?
Sloterdijk: Das Verhältnis von Mensch und Welt ist das Thema der Philosophie seit zweieinhalbtausend Jahren, nur daß in der klassischen Metaphysik noch ein drittes Element mit gedacht wird, das heute keine gute Presse hat. Aber das metaphysische Dreieck, in dem das Denken über die großen Fragen routiniert wurde, das Dreieck aus Gott, Mensch und Seele, besteht in einer Rumpfform nach wie vor. Andernfalls wird es durch einen Monismus der Welt, also durch die Absolutsetzung der Welt, ersetzt, wobei man den Versuch macht, den Menschen nur als eine Funktion der Welt darzustellen, als eine lokale Funktion des Kosmos oder als eine lokale Funktion der Gesellschaft. Womit wir wieder in die alte Misere zurückrutschen, weil wir dann jedes einzelne Individuum aufhetzen, als Symptom einer an sich selber verzweifelnden Gesellschaft zu existieren. Man hat gute Gründe, diese Zumutung zurückzuweisen. Ich beginne, eine ganz andere Anthropologie vorzutragen, in der die Automatik der Zuordnung von Mensch und Welt gekündigt wird. Der Mensch gehört nicht so zur Welt wie der Daumen zur Hand. Er steht auch mit dem Rücken zur Welt – als ein Kind der Nacht oder des freien Nichts.
Dauk: Haben Sie sich mit der Gnosis beschäftigt, weil diese Sekte den Widerstand gegen die »Weltagenten« praktiziert hat?
Sloterdijk: Die Gnosis ist für mich ein Übungsfeld gewesen, auf dem man die a-kosmische Dimension, die von der Welt abgewandte Komponente der menschlichen Psyche, studierenkann. Es war ein grenzgängerisches Projekt, zwischen Religionsphilosophie und Anthropologie. Die Resultate liegen jetzt vor, zum einen in dieser großen Sammlung von Dokumenten unter dem Titel Weltrevolution der Seele , einer fast tausendseitigen Dokumentation, die belegt, wie Menschen der westlichen Tradition ihre Abmeldung – wie soll ich's nennen? – beim Einwohnermeldeamt des Kosmos hinterlegt haben. Auf der anderen Ebene als nicht dokumentarisches, sondern diskursiv durchgeschriebenes Resultat erscheint jetzt ein Buch mit dem Titel Weltfremdheit , in dem obige These systematisch entfaltet wird, im Blick auf die Musik, im Blick auf den Schlaf, im Blick auf die Drogen, auf die Religionen, auf den Todestrieb, auf die Selbsterfahrung, auf meditative Phänomene und vieles andere, wo jedesmal zu zeigen ist, daß wir mit einer primitiven face à face -Beziehung zwischen »Mensch und Welt« nicht weiterkommen. Daß wir den Menschen nur richtig beschreiben, wenn wir zeigen, daß er oder sie im spitzen Winkel zur Wirklichkeit lebt und mal da ist und mal nicht und meistens nicht.
Dauk: In welcher Beziehung steht die »Weltfremdheit« zu Ihrer These, daß die Hominisation, die Menschwerdung selbst, die Katastrophe schlechthin ist?
Sloterdijk: Das sage ich nicht auf eigene Rechnung, sondern ich nehme eine These auf, die vor etwa 2000 Jahren im Umfeld eines dissidenten Judentums, in einer selbstkritischen Phase jüdischer Genesistheologie aufgekommen ist und die seither von Menschen unseres Kulturkreises nicht wieder vergessen wurde. Das Flüstergerücht besagt, daß es einen ungeschickten Schöpfer gab und daß diese Erde noch nicht die Bestleistung des Jenseits darstellt, auf jeden Fall nicht das Optimum, und daß die katholische Grundentscheidung, Gott zu retten, indem man den Menschen belastet, nicht die einzige mögliche Art von Lastenverteilung ist, die auf diesem Feld sinnvoll wäre. Man könnte auch Gott belasten und
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