Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
längerem nichts anderes mehr.
Der Halbmondmensch
Im Gespräch mit Elke Dauk [ 1 ]
Dauk: Herr Sloterdijk, die Kritik der zynischen Vernunft wirkte vor zehn Jahren wie ein ungeheurer Appell. Wie erklären Sie sich diese außergewöhnliche Wirkung?
Sloterdijk: Das Buch war kein Appell, es war eine Performance. Es hat das, wovon es gesprochen hat, auf seinen eigenen Seiten zelebriert. Es war, es ist, es bleibt ein sehr fröhliches Buch, ungewöhnlich angreiferisch an einer Stelle, wo man es nicht erwartet. Die Kritik liegt in der Tonart. Es ist angesichts seines Sujets erstaunlich lustig; es enthält eine Art von Phänomenologie aller Witze, die über den Menschen überhaupt gemacht werden können in den neun Hauptfeldern von Witzigkeit, die in dem zweiten Band durchbuchstabiert sind.
Und vor allem, es hat dazu beigetragen, die Verschwörung der Verdrossenheit, die linke Larmoyanz im Jahr '83 aufzusprengen. Die Kritik der zynischen Vernunft war der Versuch, die Über-Ich-Katastrophe der europäischen Kultur in einer phänomenologisch breiten Studie zu rekonstruieren, eine Über-Ich-Katastrophe, die damit einsetzt, daß unerreichbar hohe Ideale an die Menschen herangetragen werden. Schon in der Antike beginnt der Prozeß der Über-Ich-Aufrichtung, in dessen Abbruchphase wir heute leben. Was heute europäische Menschen als universales Gefühl von Demoralisierung erleben bisin die kleinsten Verästelungen politischer Unkorrektheit hinein, die den Zeitgeist so sehr bestimmen, sind Fernwirkungen eines Idealisierungsprozesses, der in der griechischen Philosophie und später mit der christlichen Tugendlehre eingesetzt hat und der zu einer Destruktionsgeschichte sondergleichen hat führen müssen.
Dauk: Inwiefern war denn die Kritik der zynischen Vernunft eine Kritik der Aufklärung?
Sloterdijk: Es ist nicht Kritik an der Aufklärung, sondern eine Weiterführung der Aufklärung in eine selbstreflexive Stufe; es ist Aufklärung über die Aufklärung, Reflexion über Grenzen, die in einem ersten Versuch notwendigerweise auftreten, die bei einem zweiten Versuch erkannt werden und die bei einem dritten Versuch bereits Berücksichtigung finden. Dritter Versuch ist Gesellschaftsbildung nach den schlechten Erfahrungen, die die Gesellschaft mit ihren eigenen Naivitäten gemacht hat. Die Kunst, Menschen in großen Gemeinschaften zum Zusammenleben zu überreden, ist nach wie vor nicht gelernt. Ob sie auf dem Wege der klassischen, der in der Antike zuerst entwickelten Idealismen und Opferkonzeptionen überhaupt gelingen kann, ist so fraglich geworden, daß man mit neuen Versuchen rechnen muß.
Dauk: War es nicht auch der Versuch, die zerstörerische Vernunft in einem Gegenmodell aufzuheben, das Kynismus und Diogenes repräsentieren?
Sloterdijk: Es geht nicht um die Aufhebung von zerstörerischen Elementen. Es geht darum, daß ich den Kynismus hervorgehoben habe als eine Art existentialistische Revolte, die bereits in der Antike gegen die Stadt und gegen den Staat, also gegen die beiden repressiven Großformen, gegen die »politischen Monstren« des Altertums sich formuliert hat. An diesem Modell können sich Menschen bis auf den heutigen Tag orientieren, wenn sie begreifen, daß der Mensch erst einmal ins Leben gerufen sein muß, bevor der Staat ihn verwenden kann. Die moderne Erziehung, die moderne Aufklärung, das moderne Staatswesen setzen den Menschen immer schon als gegeben voraus und denken nicht darüber nach, wie er geboren wird, wie er sich selbst erzeugt. Der alte Kynismus war in meinen Augen ein Versuch, vielleicht mit ungeeigneten Mitteln, eine Sphäre zu verteidigen, in der der Mensch nicht zu schnell an den Staat ausgeliefert wird, nicht zu schnell Agent der großen Strukturen wird. Er wollte an eine Lebensform erinnern, die damals mit dem Begriff Selbstbehauptung verknüpft wurde, eine Lebensform, in der der Mensch erst einmal entsteht und nicht schon vernutzt und auf Mission gebracht wird.
Dauk: Wollten Sie damit die Gesellschaftstheorie zu einer Lebenskunst, genauer einer Erotik hin überschreiten?
Sloterdijk: Es ist nicht nur Gesellschaftstheorie, was ich treibe, es ist ein existenzphilosophischer Ansatz, der von sich her die gesellschaftliche Welt beobachtet als eine vielfach gebrochene Landschaft von Obsessionen. Das Buch ist ein Befreiungsmanifest, es führt ein Stück der deutschen Philosophie fort, soweit sie Emanzipationsphilosophie war. Es hat wahrscheinlich deshalb auch in Deutschland seinen größten
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