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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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gute Nachricht lautet: Es gibt etwas atemraubend Großes, das heißt Intelligenz und ist unerforscht – wer meldet sich freiwillig? Die Freiwilligen der Intelligenz sind eo ipso ihre Medien.
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    [ 2 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk und Jürgen Werner erschien unter dem Titel »Warum sind Menschen Medien, Herr Sloterdijk?« im Frankfurter Allgemeine Zeitung Magazin (9. September 1994, S. 54f.).
Jürgen Werner war Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bis 1998, zunächst im Sportteil, später im F A Z -Magazin.

Weltfremdheit und Zeitdiagnose

Im Gespräch mit Andreas Geyer [ 3 ]
    Geyer: Herr Professor Sloterdijk, wenn man Ihre Publikationen verfolgt, sind dabei seit einiger Zeit zwei Pole auszumachen. Da ist auf der einen Seite Ihre intensive Beschäftigung mit der Gnosis bzw. der Mystik. Vor drei Jahren haben Sie ein kommentiertes Arbeits- und Lesebuch zur Gnosis zusammengestellt; im vorigen Jahr ist ein umfangreiches Buch mit dem Titel Weltfremdheit erschienen, in dem Sie versuchen, vergessene gnostische Motive wieder nutzbar zu machen. Auf der anderen Seite kann man aber nicht behaupten, daß aus Ihnen jetzt ein weltabgewandter Mystiker geworden wäre. Sie versuchen ja mehr als je zuvor sozusagen am Puls der Zeit zu sein. Allein innerhalb eines Jahres sind immerhin drei Essay-Bände erschienen, in denen Sie auch zu konkreten politischen und gesellschaftlichen Fragen Stellung nehmen. Hat sich diese Polarität von Introspektion einerseits und Zeitdiagnose andererseits zufällig ergeben oder verbirgt sich dahinter vielleicht sogar ein neues Hauptmotiv Ihrer Philosophie?
    Sloterdijk: Zunächst einmal finde ich es richtig, was Sie beschreiben, nämlich daß es eine Pulsierung gegeben hat in meiner Arbeit in den letzten Jahren, wobei eine Introversion von einer Extraversion und eine Extraversion von einer Introversion rhythmisch abgelöst worden ist. Das Buch Weltfremdheit hat in seiner internen Struktur auch etwas von dieser Pulsation und reflektiert über diese.
    Es ist das verschlafene oder vergessene Thema der europäischen Philosophie, die ja im wesentlichen Feststellungsphilosophie ist oder Zustandsphilosophie und die von Ereignissen und Rhythmen nichts versteht. Daß der Mensch ein Wesen ist, das im Kommen ist und im Gehen, daß der Mensch ein Wesen ist, das erwacht und dessen Aufmerksamkeit zusammenbricht, ein Wesen, das teilweise belastbar ist und jenseits einer Grenze nicht mehr: das sind Themen, die von der Philosophie im großen und ganzen zugunsten von Strukturvisionen überflogen worden sind.
    Ich glaube, daß eine Philosophie, die mit einem gewissen anthropologischen Realismus eine neue Sprache des Menschen vorschlägt, gar nicht anders kann als bei dieser elementaren Rhythmik anzusetzen, in der der Mensch wirklich als ein Zur-Welt-Kommender und Aus-ihr-Gehender beschrieben wird. Und zwar war nicht nur in der größten metaphysischen Pulsation, also in Ausdrücken von Geburt und Tod, sondern in dieser Mikrorhythmik, die jeden einzelnen Tag, ja auch jede einzelne Stunde jedes Tages charakterisiert. Insofern würde ich sagen, es ist nur eine Fortsetzung eines Zuges, den die Philosophie seit dem neunzehnten Jahrhundert allgemein aufweist, nämlich: Abstieg vom hohen Roß der absoluten Reflexion, Hinwendung zu den Niederungen der genauen Selbstbeobachtung und eine Zusammenführung von logischen Motiven mit anthropologischen Motiven. Und dort, wo die Kreuzung dieser Strömungen sich ergibt, dort entwickelt sich bei mir mit einer gewissen Zwangsläufigkeit diese Wellenbewegung: einmal hinaus, einmal hinein, einmal mit dem Rücken zur Welt, Selbstgespräche der Seele, Versuche, den Hauptschalter der Welt abzuschalten, der Letzte macht das Licht aus, ein alter Spruch; und so geht es auch im Denken zu: der letzte macht das Licht des Daseins aus. Und was nach dem Lichtausmachen übrigbleibt, ist eine Stimme, ein Weltrest, der immer noch eine Selbsterforschung unternehmen kann – so wahr es natürlich ist, daß es nie ein Selbst gibt, in dem nicht Weltreste abgelagert sind.
    Geyer: Ihr letztes Buch mit dem Titel Weltfremdheit ist, wie Sie schreiben, eine »Phänomenologie des weltlosen oder weltabgewandten Geistes«. Vielleicht können wir zunächst einmal klären, was Sie unter Weltfremdheit in diesem Sinn verstehen?
    Sloterdijk: Nun, Weltfremdheit ist eines dieser wunderbaren Wörter, in denen die deutsche Sprache schon von sich her zu philosophieren scheint. Meine Ambition war es – ein

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