Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
daß Steiner ab seinem Tode 1925 bis Ende des 20. Jahrhunderts von der Bildfläche verschwand und man ihn als spirituellen Sonderling abstempelte. In der Anthroposophie setzte eine »Versteinerung« ein, die zu einer Abkapselung der ganzen Bewegung führte. Steiner hatte mit Kandinsky, mit Jawlensky zu tun, seine Schüler entwickelten seine radikale Ästhetik in den folgenden Jahrzehnten jedoch nur unwesentlich weiter. Hatte da nicht auch die Kritik an Steiner und der Anthroposophie eine Berechtigung?
SLOTERDIJK: Die wenigen Anthroposophen, die ich in den 1960er bis 70er Jahren kannte, fielen unangenehm auf. Sie gingen, als würden sie einen Engel nachahmen, der gerade übt, wie ein Mensch zu schreiten. Zudem hatte längst die Popkultur ihre Spuren in uns eingeprägt, und die Anthroposophen kamen immer noch mit ihrer Eurythmie daher. Damals waren die Anthroposophen gegenüber der Umgebungskultur phasenversetzt, doch diese Zeitverschiebung löst sich gegenwärtig auf. Wir haben neue Gründe zu fragen, worin die Aktualität der Bewegung besteht. Eine mögliche Antwort liegt darin, daß wir auf breiter Front mit den Antworten der klassischen und zeitgenössischen Philosophie auf die Frage nach dem Wesen von Subjektivität nicht mehr einverstanden sein können. Steiner hat die menschliche Subjektivität gewissermaßen nach oben anschlußfähig gemacht. Er hat den Stecker entdeckt, mit dem man höhere Energien anzapfen kann, die normalerweise aus den Konversationen der bürgerlichen Gesellschaft verbannt waren. Das kann nicht ohne Folgen bleiben, denn es erzeugt intellektuelle Dissonanz. Man denke an den Satz von Gottfried Benn: »In Deutschland pflegt man Denker, die ihrem Weltbild sprachlich nicht gewachsen sind, als Seher zu bezeichnen.«
KRIES: Der Begriff des Sehers paßt ja, denn Steiner forderte tatsächlich, daß man sich abstrakt-philosophische Zusammenhänge in Bildern »vor Augen stellen« sollte. Während seiner Vorlesungen fertigte er die berühmten Tafelzeichnungen an.
SLOTERDIJK: Diese Tafelzeichnungen sind gewissermaßen die Vorwegnahme der Powerpoint-Präsentation. Steiner hat sich beim Sprechen darauf verlassen, daß die Idee ihn rechtzeitig ergreift, ein Motiv, das bis zum Gipfel des deutschen Idealismus zurückzuverfolgen ist. Fichte beispielsweise hat in den Anweisungen an seine Schüler unmißverständlich klargemacht, daß sich der Vortragende selbst auf das Abenteuer der Evidenz einlassen muß, die im Reden aufleuchtet. Folglich ist der Begriff des Mediums für das Verständnis des Phänomens Steiner zentral. Er erklärt einen Teil der Faszination, die heute von seinem Werk und seiner Person ausgeht. Die Menschen begreifen mehr und mehr, daß eine bloß maschinen- und apparatebezogene Definition von Medialität nicht ausreicht. Wir müssen zu dem im 19. Jahrhundert geprägten Begriff des Mediums zurückgehen, der auf intrikate Weise mit der Geisterseherei verknüpft ist.
KRIES: Und wie läßt sich dieser zeitgemäß auf Steiner übertragen?
SLOTERDIJK: Personale Medien sind Antennenmenschen, von denen Hugo Ball, Mitbegründer des Dadaismus, der nach 1918 eine spirituelle Wende vollzog, in einem bedeutenden Aufsatz jener Zeit schrieb: »Alle Welt ist medial geworden.« Steiner hatte dies zwei Jahrzehnte zuvor schon realisiert. Seine Lebenskurve endet in dem Augenblick, als das Medialwerden der Massen mit Hilfe des Unterhaltungsrundfunks einsetzt. 1923 laufen die ersten Probesendungen, 1925 verstirbt Steiner, 1930 besitzt wahrscheinlich jeder fünfte deutsche Haushalt einen Radioempfänger. Es entsteht eine neue Form der sozialen Synthesis über das Ohr. Steiner hatte die Antennen viel sensibler ausgefahren als alle diejenigen, die das betrieben, was man, seit Michel Foucault die Diskurstheorie begründete, den Diskursnennt. Diskurs heißt wörtlich hin und her rennen, aber nicht auf aktuellem Empfang sein.
KRIES: Wenn wir Steiner in diesen großen geschichtlichen Zusammenhängen betrachten, so koinzidiert sein Tod auch mit dem Ende der frühen, expressionistisch aufgeladenen Phase der Moderne. Ab der zweiten Hälfte der 20er Jahre folgte der Triumphzug des Rationalismus, und in der Nachkriegszeit dominierte dann eine Sehnsucht nach einem bürgerlichen Mainstream, in der für Steiner ohnehin kein Platz mehr war. Künstler wie Sigmar Polke, der sagte »Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!«, waren Einzelgänger. Erst heute scheinen die gesellschaftlichen Konstellationen es
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