Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Seine Innenräume sind die Umkehrungen seines geistigen Kosmos. Und in diesen Kosmos wollte er, um Ihr Bild wieder aufzugreifen, hineinhorchen. Vielleicht ist das einer der Anschlußpunkte, an dem sich Steiners künstlerische Schöpfungen und sein philosophisches Werk treffen?
SLOTERDIJK: Beides ist bei ihm untrennbar miteinander verwoben. Steiner hat eine Art Antennen-Anthropologie geschaffen, die wir nicht mehr ohne weiteres entbehren können, auch wenn wir jeden einzelnen Satz dieser Doktrin neu formulieren würden. Seit dem Anbruch der Moderne horchen die Menschen tatsächlich in den Äther hinein und wollen erfahren, was zu tun ist. Martin Buber schreibt in seinem Buch Mystische Zeugnisse aller Zeiten und Völker von 1906/07, und das ist sehr typisch für die Empfangssituation der frühen Moderne: »Wir horchenin uns hinein – und wissen nicht, welch Meeres Rauschen wir hören.« Bei Steiner hat zur gleichen Zeit ein viel präziserer Empfang begonnen. Er redet wie unter einem Diktat und hört im Äther offenbar einen Auftrag für eine lebensreformerische Anstrengung, die den Menschen unserer Zeit auf eine neue Spur setzt. 100 Jahre später, nach diesem in spiritueller Hinsicht verlorenen 20. Jahrhundert, stehen wir wieder an derselben Stelle. Der Satz »Du mußt Dein Leben ändern«, wird heute nicht mehr nur buddhistisch, christlich, stoisch oder im Sinne Nietzsches dekodiert, sondern als Auftrag, eine Lebensform zu entwickeln, die die Koexistenz der Menschen auf dem gefährdeten Planeten möglich macht. Wenn man die Antennen feiner einstellt, hört man das jetzt allenthalben. Sehr viele Menschen empfinden das sehr klar, und Steiner ist ein idealer Transmitter für diese unumgängliche Botschaft. Er ist und bleibt wichtig, weil er einer von denen war, die die Antennen schon vor dem Rundfunk ausgefahren hatten.
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[ 28 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk und Mateo Kries erschien unter dem Titel »Ein Stecker für höhere Energien« in der Welt (25. Oktober 2011) (Abfragedatum 16.3.2013).
Mateo Kries ist Chef-Kurator am Vitra Design Museum in Weil am Rhein.
Die Verpfändung der Luft:
Zur Finanzkrise
Im Gespräch mit Gabor Steingart und Torsten Riecke [ 29 ]
Steingart/Riecke: Beginnen wir mit der Frage aller Fragen, mit der Schuldfrage: Wer trägt die Hauptschuld an dem Schlamassel, den wir derzeit in Europa sehen? Sind das die von Gier gesteuerten Systeme des Finanzmarktes, wie Sie es einmal formuliert haben, oder die von ihren eigenen Versprechungen abhängigen Politiker? Oder sind es die Bürger selbst, die immer mehr wollen, als sie zu zahlen bereit sind?
Sloterdijk: So seltsam es klingt: Wir kommen heute – und Ihre Frage drückt das wunderbar aus – von den modernen Schulden zur klassischen Schuld zurück. Die Frage lautet ja: Wer ist schuld an den Schulden? Das bedeutet, daß es offenbar zwei Arten gibt, wie Menschen an eine belastende Vergangenheit gebunden sein können. Durch Schulden gebunden zu sein ist der moderne Weg. Schulden sind gewissermaßen die Sünden, zu deren Vergebung man durch Tilgung beitragen kann – während moralische Schuld uns durch einen anderen vergeben werden muß.
Steingart/Riecke: Aber es sieht so aus, daß wir unsere Schulden heute nicht mehr tilgen, sondern nur noch auf Vergebung hoffen können.
Sloterdijk: Der alte religiöse Pferdefuß schaut jetzt aus dem modernen finanztechnischen Schuldenbegriff wieder heraus, und zwar von dem Augenblick an, seit die Schulden sich so stark akkumuliert haben, daß der Gedanke an die Tilgung jede Glaubwürdigkeit verliert. Der Schuldmechanismus kann nur so lange wirken, wie es Menschen gibt, die allen Ernstes glauben, ein Schuldner werde imstande sein, a) die ganze Kreditsumme zu tilgen und b) den Aufschlag in Form von Zins zu erbringen. Wer fähig ist, solches zu glauben, kann Gläubiger werden.
Steingart/Riecke: Was Sie beschreiben, war die Geschäftsgrundlage des Wirtschaftsverhaltens in den letzten 200 Jahren.
Sloterdijk: Weitaus länger! Im frühen 16. Jahrhundert hat sich ein exemplarischer Vorgang abgespielt: Jakob Fugger, der Reiche, hat sich die Tiroler Silberbergwerke vom Landesfürsten als Sicherheit geben lassen, während ein ungeschickter Verwandter aus der Linie der Fugger vom Reh die Stadt Lüttich als Pfand akzeptierte, wobei er eines morgens feststellte, daß eine Stadt kein Pfand sein kann, weil
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