Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
müssen unser Leben entscheidend ändern, weil wir andernfalls an einem ökonomischen und ökologischen Selbstauslöschungsprogramm teilnehmen. Schon in der älteren Geschichte der Menschheit gab es strenge Autoritäten, Götter, Gurus und Lehrmeister, die ihre Gefolgschaften mit enormen Forderungen beunruhigten. Jetzt haben wir es mit einer ungöttlichen Göttin namens Krise zu tun, die von uns verlangt, neue Lebensformen zu entwickeln. Üblicherweise tragen menschliche Gruppen ja ein Projekt der Dauer in sich, einen Willen zum Fortbestand. Das Projekt der Dauerhaftigkeit ist mit dem aktuellen Modus vivendi aber strikt unverträglich. Unglaubliche Dinge sind es, die da vorgehen!
Encke: Was genau meinen Sie?
Sloterdijk: Daß zum Beispiel der Staat auf dem Gipfel seiner Hilflosigkeit laut darüber nachdenkt, seinen Bürgern Geld zu schenken, damit sie einkaufen gehen können. Unfaßbar! Wir müssen offensichtlich dazu ermahnt werden, das einmal erreichte Verschwendungsniveau um jeden Preis zu halten. Mir klingt noch im Ohr, wie Edmund Stoiber anläßlich einer früheren Krise zu den Münchnern sagte: »Schenken Sie Ihrer Frau doch mal einen Pelzmantel!« Das war seinerzeit vor Weihnachten, Rieger-Pelze, das große Pelz-Haus in München, steckte in der Krise, und als Anhänger des bayerischen Amigo-Systems dachte der Ministerpräsident, ein Freund des Hauses, fast wie ein alter 68er: das Private ist zugleich das Politische. Die aktuellen Vorgänge zur Rettung der Verschwendungswirtschaft sind kaum weniger unfaßbar. Über Nacht sind wir in ein riesiges ökonomisch-anthropologisches Seminar hineinkatapultiert worden, wo man darüber nachdenkt, wie es mit unserem Welt- und Wirklichkeitsverbrauch weitergehen kann.
Encke: Wer soll sein Leben ändern? Meinen Sie wirklich alle? Oder meinen Sie eine bestimmte »Elite«?
Sloterdijk: Ich mache mit meinem Buch erstmals den Versuch, die Gattungsbezeichnung von Nietzsches Zarathustra : »Ein Buch für alle und keinen« wörtlich zu nehmen. »Für keinen« heißt es, weil es die Eliten, an die das Buch sich wenden könnte, noch nicht gibt. Gleichzeitig heißt es »für alle«, weil ein neues Auswahlverfahren begonnen hat, in dem festgestellt wird, wer sich von der Krise ansprechen läßt. Die Menschheit wird sich teilen und teilt sich bereits vor unseren Augen: In die, die weitermachen wie bisher, und jene, die bereit sind, eine Wende zu vollziehen.
Encke: Nehmen wir mal ein Beispiel: Peer Steinbrück. Was müßte der ändern?
Sloterdijk: Er müßte als erstes verstehen, daß es nicht seine Aufgabe sein kann, Arbeitsplätze an Bord der »Titanic« zu sichern. Er sollte sich ein wenig mehr mit Eisbergkunde auseinandersetzen. Arbeitsplätze an Bord der »Titanic« gibt es nur, solange das Schiffchen fährt. Übrigens möchte niemand gern in Steinbrücks Haut stecken. Er sitzt auf dem Stuhl, dessen Inhaber unvermeidlich das unglückliche Bewußtsein bekommt. Er weiß wie sonst keiner, daß das Richtige unfinanzierbar ist.
Encke: Was raten Sie ihm?
Sloterdijk: Zu bedenken: Alles, was von jetzt an nicht hinreichend zukunftshellsichtig angelegt ist, wird eines Tages als Beitrag zu der Kollision mit dem finalen Eisberg wahrgenommen werden. Er müßte sich und seine Kollegen in aller Welt dazu bringen, an der Schaffung von Gremien mitzuwirken, die der Politik die Fähigkeit zurückgeben, luzide Langzeitprojekte zu verfolgen. Die Politik muß sich von der Wahlperiodenpanik emanzipieren.
Encke: Und was kann ich als Journalistin tun?
Sloterdijk: Sie könnten sich gegen den Zwang auflehnen, von Dingen zu reden, auf die es nicht ankommt. Täglich werden Journalisten an die Front der Ablenkungsthemen gerufen. In Österreich hat man soeben eine erstaunlich kurze Fritzl-Woche abgewickelt, und man weiß gar nicht, wie man der österreichischen Justiz dafür danken soll, daß sie es fertiggebracht hat, den Prozeß in dreieinhalb Tagen mit einem lapidaren Urteil abzuschließen.
Encke: Sie schimpfen ja gar nicht auf Österreich!
Sloterdijk: Eine Unterlassung dieser Art passiert mir nicht jeden Tag. Und doch, die österreichischen Behörden haben dem Rest der Welt und nicht zuletzt sich selbst endlose Debatten erspart. Wenn man sich vorstellt, was unsere Presse im Bündnis mit unserer Justiz veranstaltet hätte! Man hätte monatelang ein Fest der überflüssigen Nachrichten abgefeiert. Justiztheatralisch und skandaljournalistisch hätte man viel mehr herausgeholt und dabei die parasitäre
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