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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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sie nicht zwangsvollstreckbar ist. Man braucht beim Glauben Pfandklugheit.
    Steingart/Riecke: Aber ist dieser Zusammenhang von Schuld und Schulden nicht deshalb verlorengegangen, weil in der modernen Wirtschaftstheorie Schulden gar nicht mehr als Schuld betrachtet werden? Sondern als Investition und damit als eine Art Grundrecht der lebenden Generation, sich aus den vermuteten Schätzen der kommenden Generation zu bedienen? Die Amerikaner nennen das Stimulus Package . An Tilgung denkt im modernen Pumpkapitalismus niemand mehr.
    Sloterdijk: Im Grund geht es um die Kultivierung eines pathologischen Verhältnisses zur Vergangenheit. Verbrechen oder Sünde sind pathologisch – sie binden einen Täter ans Gewesene im Modus des später nachfolgenden Leidens. So werden sie von ihren Taten eingeholt. Der lange Arm der Schuld, der aus der Vergangenheit in die Gegenwart greift, wird in der modernen Gesellschaft vor allem durch den Kredit dargestellt. DerKredit wiederum muß an zwei Verankerungen befestigt sein: zum einen am Pfand, zum anderen an einem Staat, der die Zwangsvollstreckung garantiert.
    Steingart/Riecke: Der Kuckuck und nicht der Bundesadler müßte demnach den Staat repräsentieren.
    Sloterdijk: Es wäre für alle Zeitgenossen in der Tat hilfreicher, wenn wir weniger über einen Bundeskanzler reden würden und mehr über einen Bundesgerichtsvollzieher. Denn dort, wo der Gerichtsvollzug garantiert wird, liegt das eigentliche semantische oder juristisch-moralische Zentrum des Gemeinwesens. Wenn das Gemeinwesen überwiegend auf kreditgetriebener Wirtschaft beruht, dann ist dieser Mechanismus, der die Besicherung der Kredite durch die Vollstreckung gewährleistet, das moralische A und O. Bevor man also vom Staat Gerechtigkeit erwartet, sollte man sich klarmachen: Als Garant der Zwangsvollstreckung steht der Staat längst im Zentrum der spezifisch modernen Transaktionen.
    Steingart/Riecke: In Griechenland stellen die Gläubiger jedoch fest, daß sie mehr ausgeliehen haben, als sie pfänden können. Auch ihnen fehlte offenbar die Pfandklugkeit. Sie erleben das Schicksal von Hans Fugger als Déjà-vu.
    Sloterdijk: Wir erreichen erneut den Punkt, an dem den Staaten bevorsteht, was Fugger vom Reh passierte, der bekanntlich aus der Wirtschaftsgeschichte ausgeschieden ist, während die von Jakob dem Reichen vertretene Linie prosperierte – aufgrund von erwiesener Pfandklugheit. Und an genau dieser fehlt es heute. Die Regierungen verpfänden die Luft über ihrem Staatsgebiet, und Banken atmen tief durch. Das wird möglicherweise europaweit eine Desorientierung von historischen Größenordnungen auslösen, möglicherweise vergleichbar mit dem moralisch-ökonomischen Super- GAU der Jahre 1922/23, der Hyperinflationszeit.
    Steingart/Riecke: Die Deutschen sind seit jener Zeit, verstärkt noch durch die zweite Hyperinflation nach Ende des Zweiten Weltkrieges, mehr als andere traumatisiert. Ist diesemoralische Art des Nachdenkens über die Krise womöglich typisch deutsch?
    Sloterdijk: Ich würde eher sagen, die deutsche Sprache ist in diesen Dingen erfreulich deutsch, sie liefert uns diese Gedanken frei Haus. Wir sollten sie nicht tadeln für etwas, das zu ihren Vorzügen gehört, nämlich daß sie einen anderswo verdeckten Zusammenhang leicht greifbar macht. Wenn Sie auf englisch »debt« und »guilt« sagen, dann fällt einem nichts auf, und in den lateinischen Sprachen funktioniert das Spiel sowieso nicht. Denkt man aber in der Sache nach, kommen wir überall zu ähnlichen Befunden, denn es sind jedes Mal die Knoten, die in der Vergangenheit geknüpft worden sind, mit denen sich die Gegenwart an die Vergangenheit anbindet.
    Steingart/Riecke: Was Sie sagen, ist im Grunde eine einzigartige Provokation gegenüber den Leuten, die die Parole »Occupy Wall Street« ausgegeben haben. Die sagen »Besetzt« oder besser noch »Enteignet die Gläubiger!«. Sie dagegen erwidern: Der Gläubiger hat ein gutes Recht, die Schuld einzufordern, die sich in seinen Büchern befindet. Ist der Antibankenprotest nur ein großer Irrtum?
    Sloterdijk: Zunächst mal ist immer der Schuldner der Schuldige. Insofern wäre es gut, gegenüber jeder Bankfiliale ein Rechtsanwaltsbüro mit Spezialisierung auf Eintreibung von Schulden einzurichten, um den Leuten, die mit Krediten aus der Bank kommen, die Zusammenhänge klarzumachen. Die Wahrscheinlichkeit, daß sich ein Kreditnehmer schuldig macht im Sinne des Zins-und-Summe-schuldig-Bleibens, nimmt ständig

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