Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
wieder zuzulassen, daß sein Werk mit all seinen Verästelungen in die Geistesgeschichte der Moderne gesehen wird und nicht als das eines seltsamen Außenseiters. Wie erklären Sie sich, daß es so lange gedauert hat?
SLOTERDIJK: Das mag an einem weiteren Faktor liegen, der die Zyklen der Lesbarkeit von Steiners Arbeiten mitbestimmt. Ich denke hier an ein Motiv, das Helmut Lethen schon vor einem Vierteljahrhundert auf die Tagesordnung der Geisteswissenschaften setzte: Die Kältekultur der 1920er Jahre – also »Birth of the Cool« in ideengeschichtlicher Perspektive. In den 20er Jahren erfolgt ein Kälteeinbruch in die Sphäre des Geistes, von einer ganz anderen Tragweite als das, was etwa Paul Valéry meinte, wenn er ein bißchen altväterlich-kartesianisch bemerkte, »guter Geist ist trocken«. Von den 1920er Jahren an heißt es: Guter Geist ist kalt. Denkt man diese Position als eine immer mitwirkende Hintergrundsdisposition der Kultur des 20. Jahrhunderts weiter, dann wird klar, warum ein System wie das Steinersche Gefahr seit jeher läuft, an den Rand gerückt zu werden. Es ist ja in vieler Hinsicht der Gipfel der Uncoolneß. Coolneß will mit Lebens- und Weltverbesserung nichts zu tun haben. Sobald ein Weltverbesserer den Raum betritt, geht der Anhänger der Coolneß hinaus.
KRIES: Und heute hat sich das geändert?
SLOTERDIJK: Der Zeitgeist heute gewährt bestimmten Formen von Uncoolneß wieder mehr Spielräume. Mit meinen amerikanischen Studenten las ich, vor Jahren, Nietzsches Zarathustra . Ich hatte die Befürchtung, es werde ihnen zu pathetisch werden. Doch sie lasen das Ganze einfach so weg, wie einen Rap. Sie fanden es gar nicht so schwülstig und hochgezogen. Sie konnten die extreme Höhenlage von Nietzsches Rhapsodik, die dem alteuropäisch erzogenen Menschen peinlich ist, mühelos vom Blatt lesen.
KRIES: Diese Einschätzung mag man bestätigen, wenn man heute bestimmte Tendenzen der Mode betrachtet. In Zeiten eines fast aufdringlichen Fortschritts ist vor allem das angesagt, was irgendwie uncool aussieht und sich dieser Beschleunigung widersetzt, momentan sind es dicke Hornbrillen und Strick-Krawatten. Aber es gibt ja noch andere Parallelen zur Gegenwart, denken wir an die vielen Objekte und Bauten, die in ganz ähnlicher Weise polygonal und kristallin geformt sind wie manche Entwürfe aus dem Umfeld Steiners. Einerseits scheinen diese Entwürfe selbst die molekulare Welt als ästhetische Inspiration heranzuziehen, andererseits erinnern sie mit ihrer ganzen Schwere, teilweise auch Unbeholfenheit an die Sehnsucht nach Stabilität und Schwere in einer immer schnelleren Zeit. Paul Virilio hat Steiners Goetheanum, im Sinne seiner eigenen Bunkerthese, auch als Schutzraum gegen die Versuchungen und Risiken einer beschleunigten Moderne gedeutet. Als entschleunigte Architektur sozusagen. Würden Sie dem zustimmen?
SLOTERDIJK: Ich verstehe Häuser in erster Linie als verräumlichte Immunsysteme. Bei dieser Definition kann man sich fragen, was geschieht, wenn wirklich die Form der Funktion folgt. Wie muß man bauen, wenn der immunitäre Imperativ am Beginn einer Raumschöpfung steht? Dann denkt man ein Haus von den intimsten Räumen her, und nicht von der prunkenden Eingangshalle aus. Gute Architekten konzipieren das Haus vom Schlafzimmer aus, während die Modernisten, die den Kältestrom der Moderne in die Wohnung hineingetragen haben, mit so bemerkenswerten Vorschlägen hervorgetreten sind wie dem, tagsüber das Bett an der Wand hochzuklappen.
KRIES: Steiner hingegen hat für sein Haus Duldeck ein Bett entworfen, das aussieht wie ein gigantischer Ozeandampfer. Mit seinen Rundungen und Wölbungen scheint es einen geradezu zu verschlingen …
SLOTERDIJK: Eines der Schlüsselworte zum Verständnis einzelner jüngerer architektonischer Tendenzen ist das aus der englischen Soziologie übernommene Wort Einbettung: »Embedding«. Angesichts der überall um sich greifenden Tendenzen zu Mobilisierung und Disembedding interessieren sich die Menschen wieder für gründende bzw. einbettende Situationen. Einbettung bedeutet, daß Menschen als sphärenempfindliche Wesen den Raum als Eintauchraum, als Immersionsraum begreifen wollen.
KRIES: Wobei die Immersion ja immer auch ein Eintauchen in einen endlosen geistigen Kosmos ist. Steiner hat einmal gesagt, wenn man das Herz des Menschen nach außen stülpen könnte, erhielte man ein Weltall. Das läßt sich auch auf Architektur und Design bei Steiner übertragen.
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