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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Funktion der Presse voll ausgespielt: die Ablenkung vom Wesentlichen, die längst zur Hauptfunktion geworden ist.
    Encke: Wie sehen Sie sich selbst? Als Trainer zur Weltverbesserung oder als postmodernen Guru?
    Sloterdijk: Na ja. Philosophen sind Menschen mit einem starken Selbstgespräch. Auf der einen Seite finden sie in sich einen Zeitgenossen, der die allen Menschen gemeinsame Ratlosigkeit angesichts der Weltlage teilt. Auf der anderen Seite gibt es in ihnen eine Teilpersönlichkeit, die behauptet, sie habe etwas gelernt und wisse Rat. Die zweite Figur, die bei mir aufdem Ratgeberstuhl sitzt, ist im Moment vielleicht ein bißchen imposanter geworden. Ich habe in die Weltlage hineingehorcht und meine aktuellen Wahrnehmungen mit dem allgemeinen Wissen über die Evolution der Hochkulturen in den letzten drei Jahrtausenden verknüpft. Daraus ergeben sich einige dringende Mitteilungen.
    Encke: Nicht jeder will diese dringenden Mitteilungen hören. In Ihrem Buch werfen Sie den Intellektuellen vor, daß sie Leute, die ernsthafte Warnungen aussprechen, gleich als Wichtigtuer abtun. Kaum einer, sagen Sie, läßt das Ausmaß der Bedrohung an sich heran. Sind das für Sie Zyniker, oder sind sie einfach nur naiv?
    Sloterdijk: Im gegebenen Fall ist die Alternative zwischen zynisch und naiv nicht komplett. Als ich vor einem Vierteljahrhundert Die Kritik der zynischen Vernunft schrieb, unternahm ich den Versuch, die ganze Typologie des intellektuellen Feldes in diese Alternative zu zwängen: Entweder sind die Leute naiv, dann sind sie den Problemen zu nahe, oder sie sind zynisch, dann sind sie den Problemen gegenüber zu gleichgültig. Heute brauchen wir eine dritte Position. Ich spreche von Leuten, die weder zynisch noch naiv sind.
    Encke: Sie meinen Leute, die alles dekonstruieren, um sich die Welt vom Leib zu halten?
    Sloterdijk: Der Dekonstruktivismus ist nicht zuletzt deshalb plausibel geworden, weil die Moderne zu viele fatal naive Formen von Weltretterei hervorgebracht hat. Die Sozialkatastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts sind aus Ideologien entsprungen, formuliert von irgendwelchen Halberleuchteten, die mit großer prophetischer Gebärde das Welträtsel lösten. Ob man nun dem Privateigentum an allem schuld gab oder dem zersetzenden Judentum: Gegenüber verführerischen Primitivformeln war das dekonstruktive Verhalten allemal gerechtfertigt.
    Encke: Aber es reicht heute nicht mehr?
    Sloterdijk: Richard Rorty hat seine Kollegen in den philosophischen Departments und Humanwissenschaften einmaletwas bitter als »detached cosmopolitan spectators« bezeichnet. Er meinte damit: Sie reden von der Krise wie von einer Operninszenierung. Allenfalls blicken sie mit dem Opernglas auf die Katastrophen an der Peripherie, ohne zu begreifen, daß viele Desaster, die sich heute ereignen, nicht nur ihren eigenen Unheilsgehalt haben, sondern auch Zeichenqualität für unsere Zukunft besitzen.
    Encke: Was heißt »Zeichenqualität«?
    Sloterdijk: Hans Jonas und Carl Friedrich von Weizsäcker haben schon in den achtziger Jahren von »Warnkatastrophen« gesprochen. Gemeint war damit: Die Menschheit bekommt Warnungen aus dem Realen zugespielt, die müssen entschlüsselt und ins Verhalten von Individuen und Institutionen übersetzt werden. Genau das kann derjenige nicht tun, der sich mit der Rolle des losgelösten kosmopolitischen Theaterbesuchers begnügt.
    Encke: Bietet so ein Opernglas nicht auch Schutz? Wenn man sich mit dem Ausmaß der realen Bedrohung tatsächlich konfrontiert, kann einen das auch handlungsunfähig machen, im Extremfall in den Selbstmord treiben. Menschen sind schutzbedürftige Wesen.
    Sloterdijk: Seit dreitausend Jahren leben die Avantgarden der Menschheit in dieser Situation: Daß sie Übergewaltiges sehen, und die Intelligenz zittert. Mir scheint, der Begriff »Gott« war eines der stärksten Schutzschilde, hinter die man sich ein Weltalter lang zurückzog, um dem Ungeheuren standzuhalten. Sähe man die Außenseite des Schildes, würde man zur Salzsäule erstarren. Erinnern Sie sich an den Schild des Perseus, in dessen Mitte das grauenerregende Haupt der Gorgo eingefügt war. Der Held steht aber auf der Innenseite des Schilds und kehrt den Schrecken nach außen. Dieses Bild beschreibt recht gut die Situation der Intelligenz, wenn sie sich im Handgemenge mit dem Realen zu sichern versucht.
    Encke: Also müssen wir aus der falschen Sicherheit raus und gefährlicher leben?
    Sloterdijk: Vor allem gefahrenbewußter

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