Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Gedanken von Leuten, die sich zurückgezogen haben, das darf man nicht vergessen. Daß Geistesgeschichte nun die Geschichte eines weltzugewandten Geistes sein soll, das ist eine relative Neuheit. Das, was man Geist nennt – deshalb rümpfen ja auch die meisten Menschen aus dem Volk die Nase, wenn von solchen Dingen die Rede ist –, siedelt sich ja in einem Terrain an, wo wir üblicherweise mit Weltflucht, mit Askese, mit Rückzug in die Wüste, mit dem Kloster, mit mönchischen Lebensformen usw. konfrontiert sind …
Geyer: … aber das waren ja auch die klassischen Wege!?
Sloterdijk: Das waren die Hauptwege, die verfaßten Wege einer offiziellen und noblen – das ist sehr wichtig –, einer noblen Weltflucht. Die Welt ist alles, dem den Rücken zu kehren dem Menschen in gewisser Weise naheliegt. Das ist bisher in den Traditionen unserer Geistphilosophie verborgen geblieben. Man kann den Eindruck haben, daß mit der Dekonstruktion, mit der Demontage der großen geistphilosophischen Systeme die Menschen jetzt in eine elendere Situation als je zuvor gebracht worden sind, weil sie alternativlos zwangseingemeindet worden sind in eine immer positiv gegebene Welt. Und dagegen muß auch von der Position der Moderne aus Widersprucherhoben werden: Der Mensch bleibt weltfremd oder weltabgewandt in weiten Teilen – auch in einer Zeit, in der Menschen sich nicht mehr in erster Linie als Geistwesen interpretieren und wo die Entgegensetzung von Weltkindern und Geistesmenschen ultimativ zusammengebrochen zu sein scheint. Auch die Geistesmenschen unterschreiben heute ein Attest, das ihnen ihre Wirklichkeitstüchtigkeit bescheinigt. Wir haben keine ontologischen Ausreden für Weltflucht mehr im klassischen Sinn. Man kann sich nicht zu Lebzeiten zu Gott zurückziehen, wie es die Wüstenheiligen des dritten und vierten Jahrhunderts in Syrien getan haben. Auf eine Säule setzen sich vor allem etwas eitle Dichter, sie stellen auch ihre Säulen meistens in dichtbevölkerten Gegenden auf, so wie Bertolt Brecht es in bezug auf Stefan George einmal spöttisch bemerkt hat.
Geyer: Aber wo sind die heutigen »Säulen«? Wo stehen die?
Sloterdijk: Jeder Mensch hat seine private Säule in seinem Schlafzimmer. Das ist nun kein nobles philosophisches Thema. Aber der Mensch als Schlafender ist schlechthin die unbekannte Größe in der Geschichte des Denkens. Nicht daß man nicht in der letzten Zeit auch eine Menge sinnvoller und wertvoller empirischer Schlafforschung betrieben hätte. Aber das bleibt Psychologenangelegenheit. Die Philosophie selber überschreitet die Schwelle zu dieser Wahrnehmung von menschlicher Verfaßtheit selten. Der Philosoph will nicht wissen, daß er schläft. Der Philosoph gibt allenfalls zu, daß er weiß, daß er nicht weiß. Aber er gibt kaum zu, daß er nur ganz selten wach ist. Das fällt ihm deswegen nicht auf, weil er sich meistens dann äußert, dann redet und dann denkt, wenn er da ist. Aber sie denken selten in der Dämmerung. Und mit dieser zeitlichen Verschiebung des philosophischen Augenblicks: nicht denken am Mittag, nicht denken vormittags im grellen Licht des Tages, sondern Dämmerungsdenken, ganz morgendlich oder ganz abendlich – da treten andere Töne auf und andere Wahrnehmungen. Jetzt ist eine Art januarische Kopfhaltung möglich: man schaut vorwärts und rückwärts zugleich und weiß, daß man ein Verschwindender ist oder ein Kommender, je nachdem. Beim Eintreten oder Austreten, wenn man in diesen Augenblicken denkt und nicht in dieser fetten Mitte und nicht an diesem positivistischen hellen Tag, dann hat man den Blick auf beide Seiten und weiß, daß das Denken auch ein Kommendes und Gehendes ist. Die Dämmerung ist von daher die genuine Tageszeit einer Philosophie, die sich selber auf die Schliche gekommen ist oder die sich selber über die Schulter schauen kann.
Geyer: Man kann diesen Schlafzustand ja auch künstlich herbeiführen, nämlich durch Drogen. Was ist zu Drogen in diesem Zusammenhang zu sagen?
Sloterdijk: Es gibt in diesem Buch Weltfremdheit , das Sie erwähnt haben, ein Kapitel, das sich mit dieser Frage beschäftigt. Ich gehe da der Frage nach, warum der Mensch von der Frühzeit der Kulturen, die wir kennen, an ein Drogenbenutzer gewesen ist, wenn auch unter ganz anderen Begriffen. Der Begriff Droge ist ein Apothekerbegriff und ein Polizistenbegriff …
Geyer: … ein Begriff, der heutzutage mit Sucht zusammenhängt!
Sloterdijk: … der mit Sucht in Zusammenhang gebracht
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