Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
wenig wie die von Ernst Bloch in bezug auf das Wort Utopie –, das negative Element an dieser Formulierung abzustreifen und den Ausdruck so lange ernst zu nehmen, bis er als positiver Begriff, eigentlich als Grundbegriff der Philosophie, endlich angenommen wird. Welt ist nicht etwas, worin wir alternativelos uns aufhalten, sondern Welt bezeichnet das, dem wir uns immer wieder zuwenden, unter der Voraussetzung, daß wir uns vorher von ihr abgewandt haben. Es geht also eigentlich um einen rhythmologischen Weltbegriff: Welt ist alles, was aufgeht und was untergeht, und dazwischen gibt es auch Phasen von Stand und Gegenwart und Dauer. Aber das sind alles nur Phasenmomente und die Ur-Unaufmerksamkeit der klassischen Philosophie – und überhaupt die von jeder Theorie – besteht ja darin, daß sie sozusagen Dauersätze und Dauerdiskurse zu produzieren versucht und damit die elementare Wahrheit über den Menschen als ein Wesen, das mal da ist und mal nicht – und meistens nicht –, von vornherein auf eine besondere Weise verschläft. Theorie ist auch eine Form der Weltfremdheit, nämlich, es ist der Schlaf der Vernunft, die glaubt, sie ist immer da. Philosophie und Askese waren zwei miteinander verschwisterte Größen, und die Philosophie war immer auch eine Art Disziplin der Dauerwachheit. Sie hat ähnlich wie der alte Asketismus mit der Illusion kokettiert, es gäbe eine Möglichkeit, den Gott nachzuahmen, sofern dieser ein immer wachender ist, ein nie schlafender, ein alleswissender, ein allesbegleitender, einer, dem jedes Ereignis zugewandt ist. Ich glaube, daß es ganz notwendig ist, für die Philosophie sowie für die Menschen, eine Sprache zu entwickeln und eine Theorieform in Vorschlag zu bringen, in der deutlich gemacht wird: der Mensch ist ein Wesen, das zum großen Teil mit dem Rücken zum Wirklichen steht. Und die Zuwendung zur Wirklichkeit ist die Ausnahme, und die Abwendung, von allem, was der Fall ist, die Regel.
Deswegen verwende ich den Begriff Weltfremdheit jetzt mit einem grundbegrifflichen Anspruch.
Geyer: Sie meinen also, daß in der westlichen Philosophie ausschließlich bisher der weltzugewandte Geist salonfähig gewesen ist und daß dadurch eine wichtige Komponente der menschlichen Psyche verlorengegangen ist – oder zuwenig gewürdigt wurde.
Sloterdijk: Geist ist immer schon in einer gewissen Weise Weltgeist. Das ist nicht nur eine terminologische Besonderheit Hegels, er bringt nur den latenten Zug aller Geisttheorien auf den Begriff. Der Geist ist immer schon der Welt zugewendet und ist immer schon das Licht, das über Weltsachen ausgebreitet ist, das Wissen ist immer schon ein Wissen vom Positiven. Es ist aber ein unwaches Wissen. Darauf will ich hinaus. Das Wissen und das Bewußtsein, oder das Wissen und die Wachheit, um es genauer zu sagen, sind zwei verschiedene Größen, die zu verwechseln eine Leidenschaft der europäischen Philosophie war. Daher kommt eine gewisse zunehmende Inkompetenz der Philosophie für Fragen der Wachheit, übrigens auch für Fragen der Aktualität: ein Philosoph, der Aktualität berührt, gilt nach wie vor ja als ein unseriöser Geselle in dieser Disziplin. Es ist eine Spätfolge dieser in Vorzeiten schon gefallenen Vorentscheidung zugunsten dieser eindeutigen Korrelation von Wissen und Welt. Daß es aber ein Wachen gibt, das noch gar keine Welt hat und das also nur in die Welt sozusagen »hinauslauscht«, das ja auch von der Nacht her irgendwie den Morgen ahnt – um mit Metaphern zu beschreiben, die auch Martin Heidegger sehr viel bedeutet haben –, das sind Sachverhalte, die man mit einer solchen rhythmischen Betrachtungsweise viel besser in den Blick bekommt und auch sprachlich viel besser wiedergeben kann, sobald man sich für einen positiven Begriff von Weltfremdheit entschlossen hat.
Geyer: Sie argumentieren ja dahin gehend, daß der weltabgewandte Geist als wesentliche Komponente des Menschen nicht einfach verschwunden ist, sondern sich heute auf anderen Wegen Bahn bricht. Welche Wege sind das?
Sloterdijk: Zunächst wäre zu sagen, welches die klassischen Wege einer sozusagen offiziell gemachten Weltfremdheit oder Weltabwendung gewesen sind. Wir leben ja in einer Kultur, in einem kulturellen Augenblick, in dem wir auf dreitausend Jahre, in Indien vielleicht sogar auf viertausend Jahre, organisierte Weltflucht oder Weltdistanz zurückblicken können. Geistesgeschichte war bis vor ganz kurzem im wesentlichen die Erzählung von den Lebensformen und den
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