Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
wird, was alles scheinwahre Assoziationen sind. Assoziationen für ein Phänomen, das erst im Zusammenhang mit dieser Beschreibung entstanden ist. Ich glaube, daß die Drogen früher nicht süchtig gemacht haben, die sogenannten Drogen. Weil es auch gar keine Drogen waren, sondern psychodelische, psychotropische Substanzen, man könnte fast sagen theotropische Substanzen, also mit anderen Worten: Türöffner zum Heiligen, Türöffner der Götter, Chemikalien die …
Geyer: … innerhalb von Ritualen, benutzt worden sind …
Sloterdijk: … im Ritual gebunden, in einem Kult verankert, in dem die Pflanze und der Gott und der Mensch in einer heiligen Triade miteinander korreliert werden. Und je elaborierter der Gebrauch von Drogen ist in einer Ritualkultur, desto unmöglicher ist der Mißbrauch im Sinne von privaten Berauschungen. Wer Drogen nimmt, oder Drogen nahm in alter Zeit,hat dies getan, um existentielle und metaphysische Informationen in sein Leben hereinzuziehen, während der heutige Drogensüchtige ein Mensch ist, der einem Dealer in die Hände gefallen ist, der seine Schwäche ausnützt. Der hat dann keinen metaphysischen Informanten mehr, sondern einen allzu empirischen Händler.
Geyer: Der moderne Drogenkonsument hat mit dem Mystiker nichts mehr gemeinsam?
Sloterdijk: Doch, in gewisser Weise schon, weil ja alles Perverse mit dem richtig Gedrehten etwas gemeinsam hat. Ich glaube, daß der moderne Drogensüchtige in gewisser Weise auch ein Gottsucher ist oder ein Sucher von Erfüllungen, um es mal etwas vorsichtiger zu sagen. Drogensüchtige haben auch Vorstellungen – man weiß nicht woher, aber sie haben diese Vorstellungen – von dem, was sie erfüllen würde, was ihnen die Last des Lebens leichter machen würde und vor allem, was sie befreien würde von dem Haß auf den Zustand, zu dem ihr Dasein sie verurteilt. Und man darf sagen: Sofern sie in diesem Sinn unbedingt Suchende sind, also Menschen mit einem rasenden Antrieb oder einem rasenden Verlangen, haben sie sehr wohl etwas gemeinsam mit den Gottsuchern der Tradition. Ich glaube, es wäre auch nicht ganz falsch zu sagen, daß es erfolgreiche Drogentherapie vor allem dort gibt, wo man die Menschen nicht nur auf eine triviale Weise ernüchtert oder ausnüchtert und ihnen sozusagen den Strafvollzug in der trockenen Wirklichkeit verordnet, sondern wo man ihnen Alternativen des Hochgefühls anzubieten vermag, wo man ihnen andere Lebensorientierungen, einen anderen Schwung und einen anderen Auftrieb zeigt, und daß die Ekstasen der Entwöhnung die Ekstasen der Sucht sehr wohl aufwiegen. Wenn das gelingt, gelingen auch solche Therapien. Wenn nicht, dann ist der Teufelskreis des Wiederholungszwanges in der Abhängigkeit schwer zu unterbrechen.
Geyer: Mich hat gewundert, daß Sie bei Ihrem Durchgang durch die verschiedenen Formen der Weltflucht und der Gottsuche ein modernes Massen-Phänomen überhaupt nicht erwähnen. Ich denke da an diese seit einigen Jahren grassierende »Esoterik-Welle«. Das dauert ja jetzt schon zu lang, um nur ein vorübergehendes Phänomen zu sein …
Sloterdijk: Ja, da haben Sie recht. Aber ich muß so sagen: ich berühre sie – im indirekten Modus. Mein Buch hat eine gewisse Tonhöhe und eine gewisse Höhe der Stoffwahl. Und ich fliege ein wenig – hochmütig oder nicht – über das Terrain, in dem sich die Vulgär-Esoteriker tummeln. Das ist sehr wohl richtig. Ich wollte aber ohnehin nie – wie soll ich sagen – eine Enzyklopädie der Weltflucht und der Weltfluchtformen vortragen, sondern mich eher mit den klassischen Formen der Weltflucht beschäftigen. Meine Meinung war: Wenn ich ein gutes Kapitel über die indische Spiritualität in dem Buch unterbringen kann, wenn ich ein gutes Kapitel über die Freudsche Theorie des Todestriebs plaziere und, vor allem, wenn ich eine einigermaßen adäquate Wiedergabe des Platonismus und der sokratischen Sterbekunst in dem Buch gebe, dann habe ich in exemplarischer Form das alles schon vorausbehandelt, wovon die Esoterik meistens in vulgären Aufgüssen auch spricht. Esoterik ist zum großen Teil nichts anderes als schlechte Philosophie. Meistens ist es eine Form von verwildertem Spätplatonismus, die sich auf dem Umweg über den Islam, auf dem Umweg über die griechisch-orthodoxe, russisch-orthodoxe Religiosität und auf dem Weg über die Theosophie wieder in die moderne Publizistik zurückgeschlichen hat. Wenn Sie das Corpus hermeticum anschauen, dieses vielzitierte,
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